Text: Julia Reiter
Fotos: Lluvia Estudio Creativo

Wo ist zuhause?

Er ist 27 Jahre alt und hat mehr erlebt, als in einem ganzen Menschenleben möglich scheint. Clinton musste seine Heimat Nigeria verlassen, um zu überleben. Jahre später ist er am falschen Ort gelandet. Und das, obwohl sein Ziel stets in Reichweite war. Eine Geschichte über Flucht ohne Ankommen.

 

„Proxima Parada, nächster Halt: Virgen de Rocío.“ Es ist finster, als der Zug zum Stehen kommt. Sein Grinsen hebt sich von der Nacht ab. Seine Augen lassen sich im Schatten der Kapuze nur erahnen. Auf Zehenspitzen umarme ich den 1,94 Meter großen Mann. „Freut mich sehr, dich kennenzulernen“, sagt er. Keine Floskel. Wir spazieren zu seiner Wohnung. Das Schimmern von Scherben durchdringt hier und da das Dunkel. Im obersten Stockwerk eines gelben Hochhauses empfängt uns der Duft von Hühnchen. Eine herzliche Frau mittleren Alters legt den Kochlöffel zur Seite, er seine Hand auf ihre Schulter. „Das ist meine Schwester Precious, auch wenn wir nicht wirklich verwandt sind.“ Die beiden lachen. Am Ende des schmalen Gangs befindet sich das Zimmer meines Gastgebers. Sechs Quadratmeter, jeder Zentimeter maximal genutzt. Links ein Regal mit Röhrenfernseher, rechts ein geräumiger Kleiderschrank, darauf prall gefüllte Sporttaschen, dahinter ein Fahrrad, aus dessen Sattel Schaumstoff lugt. In der Ecke neben dem Bett brummt ein Kühlschrank vor sich hin. „Sorry, dass es hier so eng ist“, sagt er und reicht mir grinsend ein kleines Handtuch und eine Dose mit Körperbutter. Olive. „Wenigstens habe ich das Nötigste, um mich zu pflegen.“ Das ist nicht immer so gewesen.

Bei Null

Als Clinton im Dezember 2019 in Sevilla ankam, hatte er nichts. Die Reise nach Spanien und seine ersten Tage auf unbekanntem Terrain hatten seine Ersparnisse von 200 Euro verschlungen. Clinton suchte dringend eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, und fand sie in plastikverpacktem Zellstoff. An den staubigen Verkehrskreuzungen der 600.000-Einwohner:innenstadt verkaufte er knapp ein Jahr lang Taschentücher. Ein Karton mit 40 Packungen kostete ihn 19 Euro. Verkaufte er diese um einen Euro pro Stück weiter, machte er einen Gewinn von 21 Euro. Das Geschäftsmodell war einfach, die Arbeit hart. An guten Tagen wanderten zehn bis fünfzehn Packungen durch die Windschutzscheiben anhaltender Autos und sieben bis zehn Euro in seine Tasche. Wie oft die Ampel in dieser Zeit wohl umschaltete? Clinton hat nicht mitgezählt. Umso genauer erinnert er sich an die Hitze. 51 Grad Celsius standen einmal auf der Anzeigetafel einer Verkehrsinsel. Unglaublich. Clinton zeigt mir ein Beweisfoto. Beim Gedanken daran erschaudert er. „Ich hasse Hitze. Ich vermisse Kälte und Schnee. “ Davon ist hier selbst Anfang Dezember wenig zu spüren. Stattdessen dringen südländische Rhythmen nach drinnen. „Das sind die Nachbar:innen“, klärt Clinton auf. „Sie stellen nachts ihre Lautsprecher ans Fenster und drehen die Musik voll auf. Nicht um zu feiern, sondern einfach so.“ Beschwerde, Anzeige oder gar Besuch von der Polizei? – Fehlanzeige. Was in anderen Stadtvierteln Sevillas problematisch wäre, scheint hier niemanden zu stören.

Zwischen Musik und Vögelchen

Los Pájaritos (Die Vögelchen) ist eines von neun Vierteln innerhalb des Bezirks Cerro-Amate. Um nur 28.000 Euro könnte mensch hier eine Eigentumswohnung von 77 Quadratmetern kaufen. Könnte. Für die meisten Bewohner:innen ist das eine Utopie. Sie leben von der Hand im Mund, versuchen durch einen Spagat zwischen Sozialhilfe und prekären Jobs ihre Mieten zu bezahlen. Los Pájaritos ist laut INE (Instituto Nacional de Estatistica, Stand 2016) das Viertel mit dem geringsten Einkommen in ganz Spanien. 21.000 Menschen aus über 15 verschiedenen Nationen leben hier hinter spröden Fassaden. Manche treibt die Armut in die Kriminalität. Clinton hat das am eigenen Leib erlebt. „Ich wohne in einer ganz guten Ecke. Aber einmal habe ich den Fehler gemacht, nach 3000 zu gehen.“ Ein Messer an der Kehle, rückte er seine Geldtasche heraus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Las 3000 Viviendas (Die 3000 Behausungen), allgemein bekannt als 3000, befindet sich nur einen Kilometer von unserer Tür entfernt. Das inoffizielle Stadtviertel, zu welchem ein Teil von Los Pajaros gehört, zählt zu einem der marginalisiertesten Orte Spaniens. Ursprünglich sollten dort Menschen aus den umliegenden, als Ghettos stigmatisierten Vierteln aufgenommen werden, um ihre Wohnverhältnisse zu verbessern. Doch 3000 wurde zur vertikalen Barackensiedlung. Berichte über Schießereien und Drogenbeschlagnahmungen mehrten sich. Viele wagten sich ohne Polizeischutz nicht mehr in die Gegend.

Aus den Lautsprechern der Nachbar:innen tönen immer noch eindringlicher Gesang und das Klackern von Kastagnetten. Doch der Klang hat sich irgendwie verändert. Vielleicht verbirgt sich zwischen den Schallwellen mehr als nur nächtlicher Krach? „Wenn ich emotional am Ende bin, höre ich Musik. Das hilft mir, wieder auf die Beine zu kommen“, sagt Clinton. Auch die andalusischen Gitanos (Roma) wussten bereits um die Kraft der Musik. Unterdrückt und verfolgt, wurde Flamenco zum Ausdruck ihrer Verzweiflung – aber auch ihrer Lebensfreude. 3000 hat einige Flamenco-Künstler:innen geboren. Musik als Mittel gegen Verfall. Sie macht hör- und sichtbar. Sie haucht neues Leben ein. 200 Euro kostet Clinton dieses hier. Kein geringer Quadratmeterpreis. Doch als ihm das Zimmer von einem unbekannten Typen an einer Verkehrskreuzung angeboten worden war, hat er ohne Zögern angenommen. Eine Wohnungswahl zu haben, ist ein Privileg, welches Clinton hier nicht hat.

Einblicke

Das Wasserplätschern unter der Dusche vermischt sich mit Stimmen aus Precious‘ Fernseher und Chris Browns Gesang aus Clintons Zimmer. Die Kastagnetten treten in den Hintergrund. Auf einem Regal steht eine Handvoll Shampoo-Proben aus diversen Hotels: „Marriott“, „Hilton“… Das Klopapier ist aus. Clinton überlässt mir sein Zimmer, um mich ungestört umziehen zu können. Dann öffnet er seinen Kleiderschrank, kramt etwas herum und reicht mir einen Dreier-Pack Invisible-Men-Socks. „Ich hab‘ nichts anderes, aber die möchte ich dir schenken“, sagt er. Wie ein Roboter dreht Clinton sich im Rhythmus um 180 Grad. Für einen flüchtigen Moment werden die freien Zentimeter des Zimmers zur Bühne eines talentierten Tänzers.

Die Tür des Kleiderschranks ist noch offen. Ich werfe einen Blick in Clintons Leben. Besonders ein knalliges Orange mit ozeanblauem Muster sticht ins Auge. Clinton holt es behutsam hervor. Seine Mutter hat ihm das traditionelle Gewand aus Nigeria geschickt. Seine Augen leuchten. Unter der Reihe an hängenden Kleidern befinden sich feinsäuberlich gestapelt T-Shirts. Er fischt eines heraus. „Erkennst du das?“ Meine Antwort weiß er bereits. „Megaphon“ steht in großen, schwarzen Lettern quer über den Bauchbereich geschrieben. Und hinten: „Sieben“, seine Teamnummer. „Ich wasche mein Trikot regelmäßig, damit es frisch bleibt, bis ich wieder in Österreich Fußball spielen kann“, sagt Clinton. Sorgfältig legt er das Stück Stoff zurück in den Schrank. Dieser quillt vor Erinnerungen über. Spanien, Österreich, Nigeria …

Ein Geschenk für Mama 

Elf Monate und ein paar Wochen. So lange war Clintons Mama mit ihm schwanger. „Ich war die härteste ihrer sieben Geburten“, erzählt Clinton. „Ich bescherte ihr die schwersten Momente ihres Lebens. Und die glücklichsten.“ Deswegen gab sie ihm sieben Namen. Einer davon: Gift, Geschenk. Clinton strahlt. Das Lachen hat er von seiner Mama, die Stärke von seinem Papa und die Intelligenz? „Ein Nomen ist der Name einer Person, eines Orts, eines Tieres oder eines Dings, ein Adjektiv ist …“, rattert er runter, wie er es bereits mit vier Jahren getan hat. Wissbegierig ließ sich der kleine Clinton zuhause von seinem älteren Bruder Lesen beibringen. Der Unterricht in der Schule langweilte ihn. Clinton wurde hochgestuft. Seine Mutter hatte große Hoffnungen, sein Vater andere Pläne. Mit neun Jahren nahm er Clinton aus der Schule heraus und mit aufs Land. Statt Stift und Heft hielt Clinton ab da Hacke und Spaten in den Händen. Es war die Aufgabe der Männer, sich um die Familie zu kümmern. Clinton verstand das. Er arbeitete. Er war müde. Er vermisste die Schule. Wenn alle versorgt seien, würde er dorthin zurückkehren, sagte er sich.

Wenn Clinton nicht arbeiten musste, schaute er gerne Filme. Eine beliebige Szene, Schauplatz Küche: Ein Mann hilft einer Frau beim Kochen. Bilder wie diese eröffneten dem Jungen eine neue Welt. Sie sahen dem echten Leben, wie er es kannte, gar nicht ähnlich. Sein Vater half seiner Mutter nie beim Kochen. Er ging mit seinen Freunden aus, trank, kam nachhause, aß, was ihm seine Frau gekocht hatte, schlief. Gelegentlich schlug er zu. Manchmal mehr. Eines Tages warf Clintons Vater ein Radio nach der Mutter. Knapp schoss es an ihr vorbei, nur um an Clintons Brust abzuprallen. Der Junge ging zu Boden. Im nächsten Moment erhob er sich in Rage. Der Schmerz in der Brust war ihm völlig egal, doch niemand dürfe seine Mutter anrühren – niemand! Sekunden später baumelten die Füße des Vaters in der Luft. Das war das letzte Mal, dass er Clintons Mutter geschlagen hatte.

(K)ein Zuhause schaffen

Dem Priester fiel auf, dass Clinton nicht mehr regelmäßig in die Kirche kam. Als er den Grund erfuhr, nahm er ihn zur Seite: „Du trägst so eine große Verantwortung. Dabei sollte deine einzige Verantwortung sein, selbst getragen zu werden.“ Clinton war damals elf Jahre alt. Bis heute fühlt er die Worte des Priesters. Und die Wut auf den Mann, der ihn großgezogen hat. Er denkt an die Papa-Kind-Zeit, die er niemals hatte, und an die Probleme, die sein Vater ziemlich sicher hatte. Seine Wut verblasst ein wenig. Clinton ist zu einfühlsam, um nachtragend zu sein. „Viele von euch sind sicher verärgert über ihre Väter, weil sie kein Zuhause für euch geschaffen haben“, erinnert Clinton sich an eine Predigt zurück. „Anstatt verärgert zu bleiben, versucht selbst ein Zuhause für eure Kinder zu bauen, damit sie eines Tages zu euch aufschauen können.“ Der Priester sprach damals zur versammelten Gemeinde. Clinton hatte das Gefühl, sein Blick galt ganz allein ihm. Er beschloss: Seine Kinder sollten eines Tages nicht dieselben Gefühle ihm gegenüber haben, welche er für seinen Vater empfand. Sie sollten eine Kindheit haben und ein Zuhause.

Clinton sah die Schule nie wieder. Dafür hatte er mit 15 Jahren 20.000 Naira, knapp 50 Euro, zusammengespart – genug Startkapital, um seine eigene Farm zu gründen. Sein Vater gab ihm ein Stück Land. Clinton stellte Leute an, ließ das Unkraut jäten und den Boden pflügen. Dann setzte er Bananenpflanzen ein. Nach einem Jahr brachte ihm die Ernte das Doppelte an Geld, das er hineingesteckt hatte. Nach und nach wurde die Gewinnspanne immer größer. Clinton konnte investieren: 700.000 Naira in einen Lieferwagen, 1,3 Mio. Naira in einen Bootsmotor, 300.000 Naira in ein Boot. Das Geschäft lief gut. Clinton war unabhängig, erfolgreich und beliebt. Das hatte nicht nur gute Seiten.

Blind vor …

„Mit 15 habe ich erfahren, was romantische Liebe ist. Ich habe mich in dieses Mädchen verliebt. Pamela sagte, sie würde schauen, ob es passt. Ich wartete ab. Dann nahm sie meinen An-trag auf einmal sehr schnell an.“ Das Nächste, woran Clinton sich erinnert, sind die wohl beschämendsten Momente seiner Jugend: die Geburtstagsparty eines Freundes, Musik, Tanzen, Feiern, Blackout. Als Clinton erwachte, war er nackt. Neben ihm Pamela, ebenfalls nackt. Panik stieg in ihm auf. Er war erst 15 und nicht verheiratet! Halb benommen warf er sich seine Kleider über und rannte los. „Wir müssen reden.“ – eine SMS von Pamela. Dann ein Treffen. Pamela war schwanger. Panik wurde zum Hilfsausdruck. „Ich wollte niemals Vater werden, ohne davor geheiratet zu haben“, erzählt Clinton. Das wollte auch Pamelas Vater nicht. Er verprügelte seinen Schwiegersohn in spe, mehrfach. Clinton war am Boden zerstört. Doch Clinton liebt auch Kinder. Er stellte sich auf seine neue Rolle ein, kaufte Babysachen und fantasierte, was er alles mit seinem Nachwuchs unternehmen würde. Ein paar Monate später war es so weit: Pamela gebar das Kind. Ein paar Momente lang war Clinton Vater. Bis der wahre Erzeuger des Neugeborenen im Krankenhaus auftauchte. Er hatte es sich anders überlegt, wollte seiner väterlichen Pflicht doch nachkommen, anstatt abzuhauen, wie er es Pamela vor neun Monaten angedroht hatte. Clinton fiel das starke Schwindelgefühl am Morgen des nackten Erwachens ein. Dass sein Erinnerungsvermögen nur durch Cola derart getrübt worden sein soll, hatte er nie wirklich hinterfragt. Doch im Angesicht des leiblichen Vaters fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Ich war der junge, beliebte und relativ reiche Typ, der Kinder liebt und Pamela zu Füßen lag.“ – Ein gefundenes Fressen für eine Person in ihrer Lage. Clinton war in die Falle getappt und hatte sich mit seiner vermeintlichen Verantwortung abgefunden. Nur um am Ende bei null anzukommen. Der knapp 16-Jährige in ihm war erleichtert, der Familienmensch traurig.

In die Flucht geschlagen

Clintons Freunde wollten ihn aufbauen. Gemeinsam auszugehen erschien ihnen die ideale Ablenkung. Nach ein paar Drinks verschwanden die beiden auf die Bar-Toilette. Was Clinton zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Seine Freunde waren schwul – nicht nur ein Tabu, sondern sogar eine Straftat in Nigeria. Bis zu 14 Jahren Gefängnisstrafe drohen homosexuellen Menschen dort. Doch dazu kommt es manchmal gar nicht erst. „Die Jungs von der Straße rufen keine Polizei. Die exekutieren selbst“, sagt Clinton nüchtern. „Lebendig verbrennen, Kopf abschlagen … Sie haben viele Methoden.“ Plötzlich kam einer von Clintons Freunden panisch aus der Toilette gerannt. Der andere kam nie mehr zurück. Chaos, alles wirr und schnell und keine Zeit zum Nachdenken. Ein Messer schnellte in Clintons Bein. Er rannte. Wieder. Diesmal um sein Leben. Wer gemeinsam mit Homosexuellen gesehen wird, gerät selbst schnell in Verdacht, ebenfalls homosexuell zu sein – ein potentielles Todesurteil.

Monatelang war Clinton auf der Flucht. Doch er war populär. Es sprach sich herum, dass er heterosexuell sei. Die Street Boys rückten von ihm ab. Ein kurzer Moment des Durchatmens vor einem weiteren Moment der Bedrohung. Der Bruder seines getöteten Freundes machte Clinton für den Mord verantwortlich und würde ihn dafür bestrafen. Clintons Glück: knapp 6.000 km Distanz zwischen den beiden. Der Rächer lebte in Italien, Clinton in Nigeria. Nach und nach konnte Clinton seinen Fluchtmodus auf Stand-by schalten. Was blieb: eine Narbe am Bein und nagende Gewissensbisse. „Die Schmerzen meines Körpers kann ich ertragen. Die meines Herzen s nicht“, sagt Clinton. Hätte er damals in der Bar realisiert, was seinem Freund angetan wurde, hätte er gekämpft. Doch da war Chaos, keine Zeit zum Nachdenken.

Die nächsten vier Jahre kehrte etwas Ruhe ein. Clinton arbeitete weiterhin als Farmer und führte ein ganz gutes Leben. Bis er 20 wurde. Diesen Geburtstag wird er wohl nie vergessen. Was damals geschah, hat Clinton noch nie erzählt. Er schluckt und zögert. Doch er möchte sie endlich loswerden, die Erinnerungen, die ihn seit Jahren wie ein Felsbrocken am Fuß in die Tiefe ziehen. Was dann folgt, ist Stoff, aus dem Heldengeschichten gemacht sind. Doch die Realität ist kein James-Bond-Film. Clinton hat keinen Stab an Geheimagent:innen im Rücken. Er kann mit seiner Tat nicht beim dritten Martini prahlen. Das Risiko wäre zu groß. Daher sei an dieser Stelle nur gesagt: Clinton hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das einer anderen Person zu retten. Er hat heldenhaft gehandelt und das kam ihn teuer zu stehen. Die Brandwunde an seinem Knöchel wird ihn für immer an seinen 20. Geburtstag erinnern, den Tag, an dem aus ihm endgültig ein Flüchtender wurde. Mit viel Kraft hält Clinton seine Mundwinkel nach oben. „Außen trage ich ein Lächeln, um die Angst in meinem Inneren zu verbergen.“ Angst. So schnell würde sie von Clinton nicht mehr ablassen.

Falsche Hoffnung

Ein Freund riet Clinton, nach Libyen zu gehen. Dort sei er in Sicherheit. Der Weg dorthin war die Hölle. Und Libyen selbst? – Das reine Fegefeuer. Anstelle von Freiheit erwartete ihn Gefangenschaft. Clinton erinnert sich nicht gerne daran zurück. „Da waren so viele Schreie.“ Angewidert verzieht er das Gesicht. Das Gefängnis war nicht einfach nur Gefängnis. Es war ein Geschäft. Flüchtende Menschen wurden dort (und werden immer noch) festgehalten und gefoltert. „Was ich dort gesehen habe, war ein Alptraum“, erinnert er sich halb widerwillig zurück. „Menschen wurden geschlagen und verstümmelt, bis sie vor Schmerzen schrien. Sogar Mädchen. Dann wurde ihnen der Telefonhörer an den Mund gehalten, damit ihre Familienangehörigen ihr Schluchzen hören und so ‚motiviert ‘ werden, Lösegeld zu zahlen.“ Clinton kämpft bei jedem Wort. „Manche Angehörige schafften es, den Forderungen nachzukommen, das Geld irgendwie aufzutreiben, obwohl sie meist aus ärmsten Verhältnissen stammen. Doch die Folterer behaupteten oft, sie hätten das Lösegeld nicht erhalten, und trieben ihr grausames Spiel weiter.“ Clinton selbst hat das „Geschäftsmodell“ schnell durchschaut. Er gab seinen Peinigern keine Telefonnummer. Nach drei Wochen schaffte er es, aus dem Folterlager auszubrechen.

In Libyen konnte Clinton nicht bleiben. Er hörte von Italien und dass es dort besser sei. Doch die Bootsfahrt kostete 300 Euro. Clinton hatte keinen Cent in der Tasche. Er tat also, was zig andere Nigerianer:innen und andere Flüchtende aus ganz Afrika machten: Car Wash. Mit Eimer und Lappen stand er den ganzen Tag unter der prallen Sonne, um Autos zu reinigen. Manchmal wurde er bezahlt, manchmal nicht – hing von den Kund:innen ab. Manche zogen einfach ihre Knarre aus dem Handschuhfach, um kostenloses Service zu bekommen. Nach vier Monaten hatte Clinton die Summe für die Bootsüberfahrt zusammengekratzt. Ein kurzer Hoffnungsschimmer. Weit kam er nicht. Ein großes, beflaggtes Schiff schnitt dem kleinen Boot der Flüchtenden den Weg ab: die libysche Küstenwache. Mit Wache im Sinne von Sicherheit und Rettung hat diese nicht im Geringsten was zu tun. Sisyphos‘ Los verblasst neben Clintons. Die libysche Küstenwache brachte ihn zurück ans Festland. Clinton war zurück in einem Lager.

Ringen

Das „Summer Camp“ könnte keinen zynischeren Namen tragen. Das Leben dort hatte mit Eiscremelecken nichts zu tun. Es war pure Brutalität. Wer sich nicht freikaufen konnte, musste sich freikämpfen. „Mein Großvater hat stets gesagt: Ein Mann zeigt seine Stärke nicht, indem er jemanden niederschlägt. Ein Mann zeigt seine Stärke, indem er jemandem aufhilft.“ Clintons Stimme wird brüchig, seine Augen glasig. „Ich wollte meine Fäuste niemals verwenden, um jemandem wehzutun.“ Stille. Nur das Surren einer Gelse flackert hin und wieder auf. Sie umkreist uns mutig, als ob sie ahnt, dass ihr nichts droht. Clinton tötet keine Gelsen. „Ich habe mich bei meinem Gegenüber entschuldigt, ihm gesagt, dass ich das nicht wollte …“ Vier Mal musste er in den Ring steigen. Dann war er frei.

Clinton bricht die Erzählung ab. Sein Kopf sackt nach unten. Nach einer kurzen Weile hebt er ihn langsam wieder, bis sich unsere Augen treffen. Leise setzt Clinton erneut an: „Bitte, ich möchte keine tausenden von Euros haben … Ich möchte einfach nur nach Hause.“ Zarte Tränen kullern über seine Wangenknochen. Er legt seinen Kopf in meinen Schoß und zieht die Beine zur Brust. Wie ein Embryo liegt er zusammengerollt zwischen seinen Bettlaken. 1,94 Meter wirken auf einmal sehr, sehr klein. All die Anstrengungen der letzten Tage, Monate, Jahre weichen aus seinem Körper. Sein Atem wird schwer. Die Gelse umkreist weiter surrend seinen Kopf. Unbemerkt. Clinton ist eingeschlafen.

„Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Pass dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.“* — oder doch?

Oktober 2020

„Hombre, habt ihr gesehen, wie schnell Clinton heute unterwegs war?“ (23:05)

„Jaaaaa, er hat José fast umgebracht ;)!“ (23:07)

„Oh nooo, I’m so sorry! War nicht meine Absicht!!!“  (23:08)

„Haha, er war wie ein Blitzlicht. Clinton the Flash.“ (23:15)

„Yesss, das bin ich…. yo bros, ich muss leider schlafen gehen. Brauch‘ etwas Erholung. Wir sehen uns übermorgen beim Training!“ (23:16)

Jänner 2021. Fast ein Jahr ist vergangen, seit Covid-19 Spanien mit unglaublicher Wucht getroffen hat. Überfüllte Spitäler, Kranke am Fußboden, Ausgehverbot, „Alarmzustand“. Clinton hat die vergangenen Monate vor allem in seinem Zimmer verbracht. Alleine. Sein strategisches Aktiv-Bleiben, um nicht auf negative Gedanken zu kommen: schwierig − Pandemie und so. Clintons Gedächtnis verfügt über die Präzision eines Stenographen. Seine Familie schätzt das. („Wann hat die Tante Geburtstag?“ – „Clinton fragen!“) Sein Gedächtnis wird zum Fluch, wenn es erinnert, was er vergessen wollte: Schläge, das brennende Seil um seine Knöchel, ein Baby schreit. Die Wände seines 6-m2-Zimmers sperrten ihn ein, mit seinen Gedanken über das, was war, und darüber, dass es vielleicht besser wäre, nicht mehr zu sein. Nicht mehr zu erinnern. Aus.

Clinton fischte nach seinem Rettungsring. Füße rein, Schnürsenkel zu und raus. Er ließ die Räder seiner Inlineskates über den Asphalt gleiten. Schneller und immer schneller. „Hey, warum fährst du so gut? Spielst du Hockey?“, rief ihm jemand hinterher. Clinton blieb stehen. Von Hockey hatte er noch nie zuvor gehört. „Willst du bei uns mitspielen?“, fragte der Unbekannte weiter. Er habe keine Dokumente, antwortete Clinton − meist Todesurteil sämtlicher Träume. „Ist egal“, entgegnete der Mann aufmunternd. „Komm in unser Team!“ Später würde Clinton ihn als Peter kennenlernen. Vielleicht hatte Peter Stefan Zweig gelesen. Vielleicht war er auch einfach nur menschlich. Peter hatte jedenfalls, ohne es zu wissen, an Clintons Wänden gerüttelt, frischen Wind reingelassen. Weiter.

Mehr als Sport

„Peng … peng-peng … peng …“ – knallt der Puck gegen die metallenen Absperrungen. Ein brutaler Klang. Nachvollziehbar, dass die „Drachen“ von Kopf bis Fuß ritterhaft gerüstet sind. Clinton zieht die Beinschützer bis zu den Knien hoch. Er schnürt und zurrt hier und da. So viele Polsterungen und Schienen − man kann sich kaum vorstellen, dass sich der menschliche Bewegungsapparat darunter noch rühren kann. Clintons weiße Zähne stechen hinter dem vergitterten Visier seines Helms hervor. „Er ist einfach ein Sportler“, sagt Teamkollege Sergio. „Und eine große Bereicherung“, sagt Lenny. Hinter ihnen jagt die Nummer 47 schon längst dem Puck hinterher. Clinton, das Blitzlicht.

Kürzlich lief Clinton beinahe einen Marathon. Worauf sich Spitzensportler:innen monatelang vorbereiten, passierte ihm unabsichtlich um drei Uhr morgens. Erst konnte Clinton nicht schlafen. Dann konnte er nicht aufhören zu rennen. Zuletzt konnte er sich gar nicht mehr auf den Beinen halten. Ein Uber brachte ihn um 6 Uhr morgens zu seiner Wohnung zurück. Clinton hatte erfolgreich all die Ängste weggejoggt, die ihn wachgehalten hatten. Jetzt fühlte er nur noch das Brennen in jeder Faser seiner Beinmuskulatur. Er schlief ein − den längsten Dornröschenschlaf seines Lebens. „Sport hilft mir dabei, Stress abzubauen und meine Emotionen zu kontrollieren.“ In Graz spielte Clinton Fußball, in Sevilla Hockey. Beides Ballsportarten, beides Teamsportarten.

„How are you?“, fragt Lisa verlegen. Sie versucht gerade, Englisch zu lernen. Clinton legt sich gleichzeitig mit Spanisch ins Zeug. Meistens treffen sie sich irgendwo in der Mitte. Weder Lisa noch die anderen „Drachen“ erinnern an ihre feuerspeienden Namenspatronen. Das Einzige, das sie entfachen, ist Freude. Besonders bei Clinton. „Sie haben mich nie nach meinen Dokumenten gefragt und mich mit offenen Armen aufgenommen.“ Er deutet auf den Panzer, der ihn umhüllt. „Siehst du die Ausrüstung? Ich glaube, sie ist etwa 700 Euro wert. Mein Team hat sie mir geschenkt.“ Auch was seine asylrechtlichen Fragen angeht, haben die „Drachen“ Clinton weitergeholfen. Einmal haben sie ihn ins Krankenhaus gefahren. Der Zusammenhalt geht über die Bande des Spielfelds hinaus. „Nach dem Training gehen wir meistens noch in die Kneipe nebenan. Wir essen, trinken und tratschen dort miteinander“, sagt Clinton. „Wenn mich meine Teamkolleg:innen danach heimfahren, komme ich mit einem Lächeln im Gesicht an.“

Take me to church

Hockey bedeutet Clinton unglaublich viel. Aber der Sonntag ist ihm heilig. Am Tag des Herrn arbeitet er nicht und spielt auch nicht Hockey. Heute geht Clinton in die Kirche. Die African Church befindet sich nur wenige Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Der Weg dorthin besticht mit gähnender Leere. Wir kommen in der Calle Andalucía Amarga („bitteres Andalusien“) an. Links und rechts ragen Lagerhallen in den blitzblauen Himmel. Er ist das Einzige, das sich vom sandfarbenen Fassadenteppich abhebt. Ein Hauch von Western. „Wir sind da.“ Clinton deutet zu einem der metallenen Tore. Wir treten ein, in einen Raum, der nicht gegensätzlicher zur Welt vor seiner Schwelle sein könnte. Fähnchen, glitzerndes Lametta, blinkende Lichter, Weihnachtsbäumchen aus Plastik, eine Explosion aus Farben. Auf weißen Plastikstühlen sitzen die Kirchenbesucher:innen, viele von ihnen ebenso bunt in traditionell afrikanische Gewänder gekleidet. Die andalusische Sonne bleibt vor der Tür. Es ist kalt. Unter einem Heizschwammerl schläft ein Baby im Kinderwagen. Das Dröhnen aus den Lautsprechern scheint seinen Schlaf nicht zu stören.

Clinton bleibt nicht lange unbemerkt. Ein Junge und ein Mädchen kommen herbeigelaufen, um ihn zu begrüßen. Er umarmt sie, tauscht ein paar Worte mit ihnen aus. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit auf den Prediger, der eindringlich auf das Mikro in seiner Hand einredet: „Geld alleine macht nicht glücklich. Wenn es dir selbst nicht gut geht, darfst du trotzdem nicht vergessen, dass es anderen vielleicht auch nicht gut geht.“ – ein kollektives „Amen!“ – „Wir sind reich, denn unsere Körper sind reich. Wir haben alles, was wir brauchen direkt vor uns. Gesegnet seien jene, die geben.“ – „Amen!“ Clintons Handy vibriert. Seine Mutter ruft an, aus Nigeria. Er hebt kurz ab und vertröstet sie auf später. Der Gottesdienst ist ihm heilig. Am Eingang versucht ein kleiner Junge, ein quengeliges Baby zu beruhigen. Clinton lässt von dem Priester ab und greift dem Jungen unter die Arme. Er liebt Kinder. Ihr Wohl ist ihm noch heiliger.

Ort der Hoffnung

Nach und nach füllt sich die Kirche. Die Luft vibriert unter der Fülle an Schallwellen von Bongos, Rasseln, Keyboard und Stimmen. Bewusstes Übersteuern. Hauptsache laut. „Hallelujah … praise the lord …“ Die Gemeinde steht inzwischen auf den Beinen, singt und tanzt. Ein junger Nigerianer geht nach vorne und verkündet stolz: „Ich möchte Gott danken. Denn er hat mich mit dem spanischen Reisepass gesegnet.“ Wogen der Freude gehen durch die Sitzreihen. Die Gemeinde applaudiert. Die Lagerhalle wird zu einem Ort der Hoffnung.

Dann kommt Clintons Auftritt. Unter eingespieltem Stadionapplaus kommt ein Kind nach dem anderen aus einem Kämmerchen hervor. Sie formieren sich vor dem Publikum zum Chor – ihre Köpfe und Augen nach oben gerichtet, zu Clinton. Er gibt der Band ein Zeichen. Dann geht es los, wie jeden Sonntag. Während die Angehörigen gebannt lauschen, ein paar Smartphones in der Luft, singen und tanzen die Kleinen. Clinton dirigiert sie bestimmt und einfühlsam zugleich. Er ist voll in seinem Element. Er ist Mentor und Bruder. Der Stadionapplaus mischt sich mit dem Live-Geklatsche der Gemeinde. Die Halle fühlt sich ein paar Grad wärmer an.

„Sie waren meine psychologische Behandlung.“

Draußen auf der Straße vor der Kirche kommt der bittere Nachgeschmack. Clinton genießt die Zeit mit den Kindern sehr. Gleichzeitig ruft sie ihm Sonntag für Sonntag in Erinnerung, was er verloren hat. „Schau, das ist Mandy.“ Clinton deutet auf den Bildschirm seines Smartphones. „Das sind Mandy und ich beim Aufzugfahren. Da tanzen wir. Und hier schläft sie auf mir. Sie liebt das und mir macht es nichts aus, wenn ich dadurch selbst nicht schlafen kann.“ Seine Augen leuchten beim Gedanken an seine Nichte. Jede Woche wohnte sie montags bis samstags bei ihm. Wenn Clinton sie zu seiner Schwester, Mandys Mutter, zurückbringen wollte, war das oft ein Drama. Er lacht. „Nach allem, was ich erlebt habe, hätte ich nicht gedacht, dass ich wieder irgendwann normal leben kann“, sagt Clinton. „Doch meine Nichte, meine Schwester, mein bester Freund, mein Bruder, die Kirche, der Megaphon-Chor, das Megaphon-Fußballteam … sie waren meine psychologische Behandlung. Ich war von so viel Liebe umgeben, dass ich die Schmerzen in meinem Herzen vergessen konnte.“ Zwei Jahre lang. Dann erhielt Clinton einen Brief der Polizei. Er solle aufs Amt beim Hauptbahnhof Graz kommen. Clinton hält sich an Regeln, er geht noch nicht mal bei Rot über die Straße. Auch damals gehorchte er ohne zu zögern. Erst auf der Polizeiinspektion wurde ihm die Tragweite seiner negativen Bescheide, die er in den letzten Jahren erhalten, aber angefochten hatte, bewusst. „Die Polizisten nahmen meine Green Card und zerbrachen sie“, erinnert er sich. „Meine Schwester weinte und flehte sie an, mich hier zu lassen. Meine Nichte weinte noch mehr. Das brach mein Herz.“

Die Behörden sagten Clintons Schwester, sie könne am Montag den Anwalt vorbeischicken. Noch bevor das Wochenende vorüber war, brachten sie Clinton ins Vienna Deportation Camp. Und schneller, als er es jemals hätte fassen oder gar verarbeiten können, fand er sich in Italien wieder. „Dublin-III-Überstellung“ nennt sich der juristische Vorgang, „Retraumatisierung“ der psychologische. „Als sie mich nach Italien deportiert haben, kam alles zurück und überschwemmte mich“, sagt Clinton. „Ich war auf einmal alleine, wie ein Ausgestoßener.“ Clinton hatte die Menschen, die er liebt, bereits einmal in Nigeria verloren. Sie noch einmal zu verlieren … ihm fehlen die Worte.

Italien – (k)ein kurzes Vergnügen

Clinton war zurück an dem Ort, an dem er zwei Jahre zuvor erstmals europäischen Boden betreten hatte. Erinnerungen an den Alptraum kamen zurück: 150 Menschen in einem überladenen Boot, mitten am Mittelmeer. Das Weinen des drei Tage alten Babys. Das Schluchzen der Mutter. Dunkelheit. Beängstigende Dunkelheit. Zehn Stunden lang waren sie da draußen. Angefühlt hat es sich wie eine Ewigkeit. Das Wasser im Boot, die Füße im Wasser. Erst nur die Sohlen, dann die Knöchel, dann … Schluchzen. Und endlich: Rettung in Sicht.

Ein Schiff der italienischen Küstenwache brachte Clinton und die anderen Bootsinsass:innen ans italienische Festland. Im Flüchtlingscamp musste Clinton seine Fingerabdrücke abgeben. Italien wurde offiziell zu seinem Ersteinreiseland. Hier würde also sein Asylverfahren durchgeführt werden. Zu diesem Zeitpunkt irrelevant für Clinton. Er war einfach nur froh, überlebt zu haben. Am nächsten Tag verließ er das Camp für einen Spaziergang. Ein paar Blöcke weiter hörte er Nigerianer:innen singen. Umso näher er kam, desto vertrauter wurde das Lied. Clinton konnte es nicht fassen. All die Qualen und Verluste, Schmerzen und Tränen, um es bis hierher zu schaffen, all das nur, um direkt bei seiner Ankunft daran erinnert zu werden: Er war nicht in Sicherheit. Clinton fiel der Bruder seines ermordeten Freundes ein. Die Distanz zwischen ihnen war gerade gravierend geschrumpft. Er dachte an die Verbrecher, die ihn an seinem 20. Geburtstag gegen seinen Willen zum Geheimagenten gemacht hatten. Das Lied der Nigerianer:innen , das hier in der italienischen Luft lag, war ihren Gang-Liedern verdammt ähnlich.

Reset in Austria

Clinton musste weg. Und zwar so schnell wie möglich. Ein Campbewohner erzählte ihm von einem Land namens Austria und dass es dort extrem viele Polizist:innen gäbe. „Dort will ich hin, dort bin ich in Sicherheit“, dachte Clinton. Nach zwei Wochen riss er ab. Im Juni 2017 kam er in Österreich an. „Die erste Zahlung – 40 Euro −, die ich bekam, verwendete ich, um ein Telefon, eine SIM-Card und Guthaben zu kaufen. Zum ersten Mal, seit ich Nigeria verlassen hatte, konnte ich meine Mama anrufen.“ Sie weinte. Clinton sagte ihr, ihm täte alles unendlich leid. Sie weinte weiter. Alle hätten nach ihm gesucht. Dann die Überraschung: „Deine Schwester ist auch in Austria.“ Laila war vor Jahren emigriert. Clinton hatte ihre neue Heimat als Australia abgespeichert. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er seine Schwester wiedersehen würde.

Mit seiner Familie vereint zu werden, war der Reset-Knopf, den Clinton so bitter nötig hatte. Doch von Anfang an lag der Schatten das Asylgesetzes darüber. In Fieberbrunn bekam Clinton seinen ersten negativen Bescheid. Seine Schwester sagte ihm, er solle nach Graz kommen. Dort würde sie einen Anwalt organisieren und alles in Ordnung bringen. Sie hätte Clinton bereits einmal verloren. Ein zweites Mal wolle sie dieses Gefühl nicht durchleben.

Zuhause?

Italien 2019, kein Déjà-vu. Clinton war zurück. Die erste Nacht verbrachte er am Bahnhof, die zweite bei der Caritas. Er war nervös. Er musste weg. Wieder einmal. Als Clinton im Dezember 2019 in Sevilla ankam, hatte er nichts. Die Reise nach Spanien und seine ersten Tage auf unbekanntem Terrain hatten seine Ersparnisse von 200 Euro verschlungen. Er stand erneut am Anfang und am Ende. Sisyphos lässt grüßen. Doch Clinton hat das Herz eines Heiligen und den Kampfgeist eines Sportlers. Und Clinton hat ambitionierte Pläne. Er möchte ins Fitnessstudio gehen und seinen Körper in Topform bringen, um Model zu werden. Oder Profisportler werden, in einem Sport, von dem er bis vor kurzem noch nie gehört hatte. Kein Lachen. Clinton hat in seinem Leben schon ganz anderes gemeistert.

Und dann sind da noch Precious, Lisa, Lenny, Sergio, Peter, die Kinder in der Kirche … Sie alle erinnern an die Bibelstelle, die der Priester in der African Church vorgetragen hat: „Wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ (1Kor 13,2) Unser Glaube kann Berge versetzen. Doch was wären wir ohne die Liebe? Clinton hat das erkannt. Er glaubt und er liebt. Er weiß, Zuhause ist keine Adresse, kein Gebäude oder Geburtsort. Zuhause ist da, wo du Menschen hast, die dich lieben. Bis er dort ist, wird er weiterarbeiten, Hockey spielen, Deutsch lernen, mit Mandy telefonieren, Gewichte heben, mit den Kindern singen, in die Kirche gehen … – Amen. Clinton grinst. Er musste vieles zurücklassen – mehrfach. Sein Lachen hat er sich bewahrt. Seine Hoffnung auf zuhause auch. Und damit kann er Berge versetzen.

JULIA REITER hat Clinton Anfang Dezember 2021 in Sevilla kennengelernt. Zwei Monate später besuchte sie Clinton noch einmal.