TEXT: SIGRUN KARRE
„Wir sind eine ganz normale Familie“
Vier Eltern, ein Kind. Dieses Familienmodell leben Kerstin (39), Dagmar (41), Siegmar (32) und Christian (43) mit ihrem Sohn Lorenz (wird im November 1 Jahr alt). Sie haben sich entschlossen, uns Einblick in ihren Alltag zu gewähren, um andere zu ermutigen, die sich die Elternschaft teilen wollen. Sigrun Karre mit einem individuellen Familienporträt von Menschen, die sich nicht als Role Model sehen.
„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, besagt ein afrikanisches Sprichwort, das auch hierzulande geläufig ist. Dorf und Großfamilie sind in unseren Breiten längst eingetauscht worden gegen Stadt und Kernfamilie. „Vater, Mutter, Kind“ lautet nach wie vor das meist ersehnte Familien-Modell, wenn auch durch hohe Scheidungsraten die Patchwork-Familie im Laufe eines Familienlebens dem „Klassiker“ langsam den Rang abläuft.
Aber es gibt auch Menschen, die ganz bewusst etwas ganz Neues versuchen. Wobei: So neu ist die Idee des Co- Parentings gar nicht, bereits die 1968er sahen es als eine Alternative zum für verstaubt erklärten Kernfamilienmodell. Die Idee dabei war und ist, dass neben den biologischen auch soziale Eltern Verantwortung für (ein) Kind(er) übernehmen. 60 Jahre später ist diese Vision nicht mehr ideologisch aufgeladen, sondern scheint die praktikable Lösung für Menschen zu sein, die gerne gemeinsam ein Kind erziehen wollen, ohne gemeinsam in einer Partnerschaft bzw. in einem gemeinsamen Haushalt zu leben. Lorenz Christian lerne ich als ein neugieriges, sonniges und sehr ausgeglichenes Kind kennen. Er begrüßt mich mit einem breiten Lächeln. „Er mag Menschen sehr gerne und fremdelt eigentlich nicht“, erzählt seinen Mama Dagmar. Neben ihr hat Lorenz noch eine weitere Mutter sowie zwei Väter, Großeltern mal vier, Urgroßmütter und -väter, diverse Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Hündin Fiona und Kater Karlo sind auch Teil seines bunten Kinderlebens. „Wenn man alle zusammenzählt, dann kommen wir schon fast auf ein Dorf“, schmunzelt Dagmar.
Alles begann mit dem Kinderwunsch des Grazer Paares Kerstin und Dagmar, beide wollten von Beginn weg mit einem Mann ein Kind bekommen und großziehen. Dass es dann gleich zwei Männer werden sollten, war ein doppelter Glücksfall. Während Kinder für lesbische Paare heutzutage keine Ausnahme mehr darstellen, haben homosexuelle Männer mit Kinderwunsch kaum Aussicht auf Familie. Als Dagmar und Kerstin sich 2017 aktiv auf die Suche nach einem potentiellen Papa für ihr Wunschkind begaben und dabei eine kleine Odyssee inklusive einiger seltsamer bis skurriler Erlebnisse zu bestehen hatten, wussten sie noch nicht, dass zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt Christian, ein junger Sozialpädagoge, den gleichen Wunsch hatte und schon lange davon träumte, einmal genau die Anzeige zu lesen, die dazu führen sollte, dass heute ein süßer Wirbelwind das Leben von vier Menschen und ihren Familien bereichert. „Es funktioniert deshalb, weil es wir vier sind mit unseren Persönlichkeiten“, sieht es Christian als glücklichen Zufall, dass sie sich damals kennengelernt haben und sich sofort sympathisch waren. Das Wohl des Kindes stand für die vier im Mittelpunkt. Die Kinderpsychologin Kerstin und der Sozialpädagoge Christian arbeiten selbst im Sozialbereich mit Kindern und Jugendlichen und bringen daher auch Wissen und Fingerspitzengefühl mit.
„Wir sind eine ganz normale Familie“, behaupten die vier unisono. Wie in jeder anderen Familie auch, gäbe es manch- mal Probleme, die aber immer ausgesprochen und gelöst werden. Man versuche, sich gegenseitig zu entlasten, wenn es beruflich turbulent zugeht oder das Baby mal kränkelt. Jede_r macht alles, wickelt den Kleinen oder fährt mit ihm zur Ärztin oder zum Arzt. Als Role Model für Co-Parenting-Familien wollen sie nicht herhalten, dazu sei jede Familie viel zu individuell, auch solle man das Modell nicht idealisieren, denn ein Mehr an Organisation ist bei dieser Form Familie zu leben definitiv notwendig. Das Pendeln zwischen Graz und Eggersdorf ist für Lorenz normal: Wenn Christian und Siegmar ihn abholen, bringt er seine Freude sichtlich mit einem Lächeln zum Ausdruck. „Von uns vieren lässt er sich am schnellsten sicher beruhigen, es besteht also schon eine besonders enge Bindung zu jeder bzw. jedem Einzelnen von uns“, bekräftigt Dagmar, die aber auch zugibt, dass sie, die Lorenz durch die Schwangerschaft und Geburt auch körperlich verbunden war, oft einen Trennungsschmerz habe, wenn sie Lorenz „hergebe“. „Aber ich halte es gerne aus“, sie wisse, dass Lorenz bei Siegmar und Christian in genauso guten und sicheren Händen ist, wie bei ihr und Kerstin. „Wir kriegen dann eben manchmal von Dagmar per WhatsApp detaillierte Anweisungen, unterschrieben mit ‚die Glucken-Mama‘“, schmunzeln die Männer über Dagmars Selbstironie.
Wir sitzen bei Sonnenschein unterm Obstbaum im idyllisch gelegenen Heurigen Reiß im ländlichen Eggersdorf bei Graz, den Siegmar, der Ehemann von Christian, gemeinsam mit seinem Vater betreibt. Lorenz spielt in der Wiese und sitzt zwischendurch abwechselnd auf einem Schoß. Auf der Speisekarte stehen altsteirische Spezialitäten aus der eigenen Landwirtschaft und Bäckerei. Tradition und Bodenständigkeit werden hier offensichtlich großgeschrieben. Offenheit aber auch. „Hier in der Gegend kennen bis zum Bürgermeister alle den Lorenz“, erzählt Siegmar. Die Leute seien neugierig und fragen, die Reaktionen seien aber durchwegs positiv, wie Christian erzählt, Dagmar, Siegmar und Kerstin nicken. Auch in ihrem Umfeld freuen sich alle mit ihnen. Die betagten Großeltern von Siegmar haben sich besonders über das Urenkerl gefreut und auch die beiden Frauen sehr herzlich und überraschend „open-minded“ aufgenommen, wie Kerstin betont. Im ersten Sommerurlaub zu fünft in einer Therme waren die vier Eltern gemeinsam Augenzeugen von Lorenz‘ nächstem Entwicklungsschritt, da saß er zum ersten Mal frei. Im September wurde er nach altkatholischem Ritus getauft. Zu diesem Fest trafen sich erstmals alle vier Familien, wenn auch coronabedingt in dezimierter Anzahl.
Die stolzen Eltern hatten in den letzten Jahren aber auch schwere Zeiten gemeinsam zu meistern. Bevor Lorenz im November 2019 auf die Welt kam, war Dagmar bereits einmal schwanger gewesen, hatte das Kind aber im dritten Monat verloren. Das war ein Schock für alle. „Ich wusste, dass das Risiko besteht, aber ich hätte nie geglaubt, dass es mich trifft.“ Dagmar hat für das verlorene Kind einen Strauch gesetzt und es bewusst aufgearbeitet. Trotz der emotionalen und finanziellen Belastung wussten alle vier, dass sie es weiter versuchen und nicht aufgeben wollen. Ein Jahr später war Dagmar dann mit Lorenz schwanger, sie erinnert sich: „Die Zeit hat uns wirklich zusammengeschweißt und wir haben uns dadurch intensiv kennengelernt.“ Christian, der leibliche Vater, war bei den meisten Terminen in der Kinderwunschklinik dabei. Ein weibliches Paar und ein Mann, von dieser Konstellation war der behandelnde Arzt anfangs jedoch erst irritiert. „Bitte sagen Sie nicht Samenspender zu mir, bitte sagen Sie Vater“, hat Christian den Arzt gebeten und ihn über ihr Modell aufgeklärt „Dann hat der Arzt begriffen, was wir vorhaben. Siegmar ist damals aber nicht mitgekommen in die Klinik. Ich glaube, zwei Papas hätten den Arzt restlos überfordert.“ Derzeit seien alle vier Elternteile mit Baby, Beziehung und Job ausgelastet, gänzlich ausgeschlossen sei ein Geschwisterl für Lorenz aber nicht.
Zu fünft zusammenzuleben, sei trotz Sympathie und vieler gemeinsamer Unternehmungen nie ein Thema gewesen, es seien ja zwei Partnerschaften und es sei auch nicht notwendig. Austausch mit anderen Co-Parenting-Familien gibt es nicht. Einerseits ist das Modell doch noch in der Praxis so selten gelebt, dass Plattformen und Vernetzung kaum existieren, andererseits meint Siegmar: „Ich wüsste gar nicht, worüber ich mich mit vier Menschen austauschen sollte, die das Gleiche machen wie wir.“ Man lebe Familie. Und wenn es Probleme gäbe, dann mache man sich das aus, sind sich alle vier einig. Später, wenn Lorenz älter ist, wäre es aber schon interessant für ihn, Kinder kennenzulernen, die ähnlich „exotisch“ leben wie er, glaubt Kerstin. Wenn Lorenz in den Kindergarten bzw. die Schule geht, möchten sie ganz offen über ihr Familienmodell sprechen, denn je transparenter und normaler man mit der Situation umgehe, desto normaler wird es auch für Lorenz sein, sind sie überzeugt. In Zeiten von Patchwork-Familien sei es ohnehin nicht mehr so ungewöhnlich, zwei Mamas oder Papas zu haben. Damit das Kind auch lernt, die Familiensituation sprachlich einordnen zu können, gibt es jetzt bereits eine Mama, eine Mami, einen Papa und einen Papi.
Abschließend hat Christian noch einen Rat für Menschen, die den gleichen oder ähnlichen Familienwunsch verwirklichen wollen wie sie vier: „Wenn jemand das so machen möchte, nicht den Mut verlieren, nicht aufgeben. Durchhalten, viel Geduld haben. Sich ganz bewusst auf die Situation einlassen und auch emotional darauf vorbereiten.“ „Und sich nicht zu viel dreinreden lassen“, ergänzt Kerstin. Das Gespräch ist zu Ende, der kleine Lorenz brabbelt schon etwas hungrig vor sich hin, letzte Frage in die Runde, ob jemand noch etwas sagen möchte: „Wir sind sehr stolz auf den Lorenz, er ist natürlich der Schönste, Beste und Klügste, aber das sagen wir ihm nur, solange er es noch nicht versteht“, lacht Dagmar. Christian liefert mir den Schlusssatz: „Wir können auch sehr stolz auf uns alle sein.“