Wie Videos
im Netz
Kinder
verschrecken

Text: Corinna Milborn

YouTube ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Babysitter geworden. Man muss sich nur umsehen – in Restaurants, Wartezimmern oder öffentlichen Verkehrsmitteln: Millionen Kleinkinder und sogar Babys sitzen stundenlang mit den Tablets und Smartphones ihrer Eltern da und folgen einem Strom von Videos, die YouTube aneinanderreiht. Millionen Videos richten sich direkt an Kleinkinder und täglich kommen Tausende dazu. Doch Facebook und YouTube kommen bei der Redaktion ihrer Inhalte nicht nach, das liegt an einer Mischung aus selbstlernenden Algorithmen und überforderten Arbeitskräften. Die Reihung
dieser Inhalte ist höchst anfällig für Manipulationen. Den Test kann jede/r selbst machen: Gehen Sie auf YouTube und suchen Sie ein beliebtes Kindervideo. Lassen Sie YouTube nach dessen Ende weiterlaufen und beobachten Sie, welche Videos Ihnen als Nächstesempfohlen werden. Sie werden sich wünschen, dass nie ein
Kind sehen muss, was Sie zu sehen bekommen: Der Algorithmus, der Kleinkindern passende Videos vorschlagen soll, wirft stattdessen regelmäßig Gewalt und verstörende Bilder auf die Bildschirme.
Nicht als reine Fehler, sondern weil seine Funktionen ausgenützt werden können, um genau das zu tun.

YouTube-Kanäle für Kinder gehören zu den erfolgreichsten von allen: Der Kanal „Little Baby Bum“ hat mit Kinderreimen elf Millionen Abonnenten und 13 Milliarden Video-Views (das ist mehr als der erfolgreichste Popstar auf YouTube, Justin Bieber, der etwas über zehn Milliarden Views verzeichnet). Der Kanal „Blu Toys“, auf dem schweigend Überraschungseier ausgepackt werden, hat über Videos wurden über sechs Milliarden Mal gesehen. Es gibt 36 Millionen Videos zum Suchbegriff „Frozen“, dem beliebten Disneyfilm. 26 Millionen Videos liefert der Suchbegriff zu „Play Doh“ (eine Knetmasse) und zehn Millionen zu „Elsa“ (der Hauptfigur des Disneyfilms Frozen). Die Titel fast aller Videos sind scheinbar wahllos aneinandergereihte beliebte Suchbegriffe: Titel wie „Finger Family Elsa Learn Colors Play Doh Surprise Egg Superman Peppa Pig“ in unzähligen Variationen.

Nur wenige Clicks vom offiziellen Video „Let it Go“ aus Frozen entfernt aber tanzt die Eiskönigin Elsa in einem hochgeschlitzten Kleid Gangnam Style, verstümmelt den Schneemann Olaf, tötet ihre Schwester Anna oder verbrennt selbst. Es gibt ein ganzes Genre von Videos, in denen beliebte Kindercharaktere und Superhelden an schrecklichen Krankheiten leiden, sich übergeben, von riesigen Spritzen traktiert oder blutig operiert werden. Es gibt Superhelden und Kindercharaktere, die einander verstümmeln, lebendig begraben, zerstückeln und auf verschiedenste Weisen töten. Manche Videos sehen den Originalen zum Verwechseln ähnlich.
Ein weiteres Genre sind von echten Menschen nachgestellte Szenen in den Kostümen von Superhelden und Kinderfilm-Charakteren. In Hunderten Videos treffen dabei etwa Elsa und Superman aufeinander und erleiden schlimme Unfälle: Schneiden sich die Finger ab oder verlieren überhaupt gleich den Kopf. Auch Kinder kommen in den Videos vor: In einem Video überfällt ein als Hulk verkleideter Erwachsener ein Kind und will es fressen. In einem anderen stecken zwei als Superman und Batman verkleidete Männer ein Kind in einen Sack und begraben es lebendig in einem Garten hinter einem Einfamilienhaus.

Das Schlimme an YouTube ist, dass man die Videos nicht extra suchen muss: Denn der Algorithmus von YouTube wählt im Autoplay-Modus nach einem geheimen Prinzip – wohl eine Mischung aus Views, dem Ton und Schlagworten – Videos aus, die hintereinander abgespielt werden, und bietet weitere Clips an. Gerade Kleinkinder sind dieser Auswahl ausgeliefert. Eltern können nur erkennen, dass etwas schiefläuft, wenn sie gemeinsam mit dem Kind schauen: Die Musik zu den verstörenden Bildern besteht meist aus harmlosen Kinderreimen. Selbst auf der YouTube-Kids-App, die eine besonders geschützte Umgebung für Kinder bieten verstörenden Videos zu finden.

Hier ist eine seltsame Mischung aus Computern und Menschen am Werk, die dieses Dickicht an Verstörung bauen: computergesteuerte Abläufe, gewinnorientierte Produktionsfirmen, Jugendliche mit schwarzem Humor, Erwachsene mit undurchsichtigen Intentionen und Leute, die Kinder offenbar hassen. Sieht man sich
die Videos genau an, kann man ein paar Merkmale dieser Aneinanderreihung ablesen: Die Titel und Schlagworte sind aus Begriffen der beliebtesten Kindervideos zusammengewürfelt. Die Musik kommt ebenfalls aus populären Kindervideos. Und die Zahl der Klicks ist enorm hoch, vielleicht künstlich hochgetrieben. Erst als im Spätherbst 2017 mehrere große Medien – darunter die New York Times – das Thema aufgriffen und große Werbekunden ihre Etats strichen, reagierte YouTube und löschte jene Videos, die in
den Artikeln vorkamen – doch Tausende andere sind weiterhin da, und es kommen täglich neue dazu.

Teils liegt diese Manipulierbarkeit an technischen Fehlern und der Weigerung, genug in die Redaktion der Inhalte und Empfehlungen zu investieren. Teils aber ist das Problem eines des Wollens: Die
Weigerung, sich selbst als Medium zu bezeichnen – das Bestehen darauf, eine Plattform zu sein – zwingt Facebook und Google dazu, den Anschein zu erwecken, kaum einzugreifen. So werden
verstörende Videos in die Kinderzimmer geliefert. Ein besonders schockierendes Beispiel lieferte Logan Paul. Er ist mit mehr als 16 Millionen Abonnenten einer der beliebtesten Teenie-Stars auf YouTube. Am 31. Dezember 2017 postete er ein Video mit dem Titel „Wir fanden eine Leiche im japanischen Selbstmord-Wald“, das er folgendermaßen einleitete: „Ich denke, das ist ein historischer Moment auf YouTube“ und „Schnallt euch an“. Das Video zeigt Paul und eine Gruppe von Freunden im japanischen Aokigahara-Wald, der als Ort für Selbstmorde bekannt ist. Paul findet eine Leiche, die von einem Baum hängt, filmt dem
Toten aus der Nähe ins verpixelte Gesicht und lacht. Das Video es nach massiver Kritik löschte.

„Wenn wir etwas aus dem Fakt lernen, dass Logan Paul eine Leiche gefilmt und veröffentlicht hat, dann dass es unvermeidlich war“, schreibt Kemi Alemoru in Dazed zu diesem Fall. Und Kommunikationswissenschafter Nathaniel Tkacz erklärt: „Unsere Medien sind nicht nur dazu gemacht, unsere Schwäche auszunützen – es gibt eine aktive Wissenschaft, die erforscht, was funktioniert und was nicht.“ Und was funktioniert, sind starke Emotionen, Schock und Wut. Schock bedeutet Klicks, Klicks bedeuten Geld – für die Ersteller der Videos ebenso wie für YouTube selbst. Die Seite „Socialblade“, die berechnet, wie viel Geld einzelne Videos bringen, schätzt, dass das Video der Leiche zwischen 12.000 und 97.000 Dollar brachte, das Entschuldigungsvideo danach, das 50 Millionen Mal gesehen wurde, bis zu 204.000 Dollar.

DIE AUTORIN:
Corinna Milborn ist Journalistin, TV-Moderatorin und
Autorin. Seit 2013 ist sie Informationsdirektorin der
Sendergruppe ProSiebenSat.1PULS4-Österreich, 2017
wurde sie zur „Journalistin des Jahres“ gekürt.

Das Buch „Change the Game – Wie wir uns das Netz
von Facebook und Google zurückerobern“, das sie mit
Markus Breitenecker, CEO von ProSiebenSat.1 PULS 4,
verfasst hat, erscheint Anfang Juni.
Es thematisiert, wie Amazon, Facebook und Google die
Demokratie und Meinungsfreiheit gefährden, und liefert
Denkanstöße für das digitale Handeln im Alltag.