Text: Julia Reiter
Niere zu verkaufen
Für uns ist Indonesien ein Paradies, für viele Indonesier:innen ist es ein gebeuteltes Land, das sie ihre Heimat nennen müssen. Die wirtschaftliche Ausbeutung von Wald und Boden treibt den Klimawandel voran. Die Folge: verheerende Naturkatastrophen. Durch die Covid-19-Pandemie bleibt der Tourismus aus. Die geschwächte Wirtschaft soll wiederum durch weitere Abholzungen gestärkt werden. Mitten in diesem Teufelskreis: Menschen wie Adi, die ums Überleben kämpfen. Und dafür zu krassen Mitteln greifen würden.
Kennst du Cassava? Das ist so ähnlich wie Kartoffeln. Eine Wurzel mit viel Stärke. Jeden Tag gingen wir aufs Feld, um Cassava zu ernten. Meine Eltern waren einfache Bauern. Ich half von klein auf. Während ich die Wurzeln aus der Erde wand, sah ich andere Eltern ihre Kinder zur Schule bringen. Ich erinnere mich, ich war acht Jahre alt, als ich auf einmal innehielt und meinen Vater fragte: „Wann wirst du mich in die Schule bringen wie diese Kinder dort?“ Mein Vater sagte: „Lass uns morgen hingehen!“ Zu Fuß marschierten wir am nächsten Morgen los. Mein Vater trug mich ein Stück, weil ich müde war. Und so aufgeregt, in die Schule zu gehen. Nach einer Stunde kamen wir beim Schultor an. Ich musste draußen warten, während mein Vater ins Lehrer:innenzimmer ging. Ich spielte draußen mit den anderen Kindern und verkündete stolz: „Ich komme auch in die Schule. Morgen sehen wir uns wieder!“
Adi lebt auf der indonesischen Insel Lombok. Während wir in den Ländern des globalen Nordens damit endlose Strände, verwachsene Tempel und ultimative Surferlebnisse assoziieren, kennt er vor allem die Kehrseite des paradiesischen Insellebens. Am 18. Dezember hatte Adi einen Termin für einen medizinischen Eingriff. „Ich habe beschlossen, meine Niere zu verkaufen“, erzählt er, wie andere von ihrem Besuch beim Steuerberater. Der Anreiz für den gefährlichen Eingriff: 200 Millionen Rupiah, umgerechnet etwa 11.600 Euro.
Vertreibung aus dem Paradies
So schlimm war es nicht immer gewesen. Auf seinem Facebook-Profilfoto: Adi mit Surfbrett unterm Arm. Seine Mähne vomSalzwasser zerzaust. Das Meer in seinem Rücken durch die untergehende Abendsonne in jene besondere Stimmung versetzt, die Surfer:innen nur allzu vertraut ist. 2004 wurde Indonesien von einem Erdbeben der Stärke 9,1 erschüttert. Dem Tsunami fielen insgesamt 227.899 Menschen zum Opfer, 167.540 davon in Indonesien. Bei einem weiteren Erdbeben 2018 kamen auf Lombok 140 Menschen ums Leben. Während die ausländischen Gäste in Windeseile das Paradies verließen, blieben die Einheimischen zurück. Und die Angst vor weiteren Beben. Besonders hart ist die Regenzeit von Oktober bis März. Im Jänner vergangenen Jahres sorgte Jakarta unter Wasser für Schlagzeilen. Hundertausende Menschen verloren ihre Häuser und Lebensgrundlage. Manche sogar ihr Leben. Adis Haus steht aktuell unter Wasser. Ein weißes Paar Flip-Flops treibt an einem Holzstuhl vorbei. Die Sitzfläche fehlt. Vom Himmel prasselt es auf die braune Suppe herab und lässt den Wasserspiegel steigen. „So wird es bis März weitergehen“, seufzt Adi. „Durch die Abholzung der Bäume ist es in den letzten Jahren noch schlimmer geworden. Die Flüsse können die Regenmassen nicht mehr ableiten und laufen über.“ Indonesien ist weltweit der größte Palmölexporteur und zudem reich an Bodenschätzen. Es überrascht nicht, dass die Rodungen im Land mit der drittgrößten Waldfläche derart rasch voranschreiten. Und mit ihnen die Klimakrise. Diese verändert wiederum die Häufigkeit und Intensität von wetterbedingten Naturkatastrophen. Laut eines aktuellen UN-Berichts hat sich deren Anzahl seit 2000 weltweit fast verdoppelt. Indonesien trifft das besonders hart. Adi und andere von Armut betroffene Inselbewohner:innen müssen die Folgen der wirtschaftlichen Ausschlachtung der Natur wortwörtlich ausbaden.
Und dann auch noch Corona
Jede Naturkatastrophe der Vergangenheit ließ Adi nicht nur um seine Unversehrtheit und die seiner Familie bangen. Hinzu kam das Zittern, ob die Tourist:innen trotz der grausigen Tsunami- Bilder, die um die Welt gingen, weiterhin das Paradies aufsuchen würden. Tourismus ist für Indonesien eine wichtige Einnahmequelle. Adi weiß das. Während der High Season arbeitet er normalerweise als Tauch- und Surflehrer. Dazwischen verkauft er selbst geknüpfte Armbänder am Strand. Normalerweise eben. Seit Anfang 2020 und dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich sein Leben krass verändert. Die Tourist:innen bleiben aus und somit seine Einnahmequelle. Stück für Stück verkaufte er seine Surfboards. Doch davon wurde seine Familie nicht satt. Sein Profilfoto ist alles, was heute noch ans Surfen erinnert. Von Seiten der Regierung gibt es keinerlei Unterstützung. Weder bei den Naturkatastrophen, noch bei der Pandemie. Auch von seinen Nachbar:innen nicht. „Sie haben mehr als ich. Aber sie denken nur an sich“, erzählt Adi. „Ihre guten Essensreste geben sie ihren Hunden, während meine Kinder hungern. Das macht mich schrecklich traurig.“ Seine Stimme gerät ins Schwanken. Das breite Grinsen verschwindet hinter seiner ernsten Miene. Verzweifelt und verlegen zieht er den Schirm seiner Baseballkappe tiefer ins Gesicht. „Ich habe nichts mehr übrig, das ich noch verkaufen könnte. Zuhause liegen noch zwei Packungen Nudeln und ein Ei im Regal. Und dann?“, fragt er mehr rhetorisch als in Erwartung einer Antwort. „Deswegen wollte ich meine Niere verkaufen – um meine Familie zu retten.“
Kidney for sale
Indonesien hat laut „Global Observatory on Donation and Transplantation“ eine sehr niedrige Organspenderate – gleichzeitig verursacht Nierenversagen nach Herzerkrankungen die zweitgrößten Kosten für das indonesische Gesundheitssystem. Für viele Patient:innen ist der illegale Erwerb einer Niere ihre einzige Chance zu überleben. Aus diesem Bedarf und der bestehenden Armut heraus sind in den vergangenen Jahren sogar Facebook- Gruppen entstanden. „Verkaufe Niere“, steht hier salopp. Potentielle Verkäufer:innen und Käufer:innen können sich hier suchen und finden. Erhält ein:e Organspender:in jedoch Geld dafür, wird der Handel zum Verbrechen. Es gibt immer wieder Stimmen, die sich für die Legalisierung des kommerziellen Verkaufs von Organen aussprechen. Solange Menschen keine Alternativen zum Überleben haben, werden sie wohl auch weiterhin diesen gefährlichen Weg gehen. Durch die Legalisierung würde es zumindest möglich werden, dem Schwarzmarkt entgegenzuwirken und die operativen Eingriffe sicherer durchzuführen. Ethisch spricht vieles gegen die Legalisierung kommerziellen Organhandels. Für Adi spielen derartige Debatten keine Rolle. Was für ihn zählt, ist seine Familie ernähren und seinen drei Kindern eine Zukunft ermöglichen zu können. Das jüngste ist gerade mal ein Jahr alt. Das älteste wäre reif für die Schule. Adi erinnert sich zurück, als er mit acht Jahren selbst auf dem Schulhof stand:
Eine halbe Stunde verging, während mein Vater im Lehrer:innenzimmer war. Nach dem Erwachsenengespräch kam er zu mir und meinen neuen Freund:innen. Ich strahlte ihn freudig an: „Komme ich morgen in die Schule?“ Er wollte nachhause gehen. Ganz still war er. Ich fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei. „Komme ich morgen in die Schule?“, hakte ich nach. Ich brauchte eine Antwort. Aber er gab sie mir nicht. Still trug er mich in seinen Armen. Seine Schritte waren schnell. Ich spürte, wie etwas auf meine Schulter tropfte. Es waren seine Tränen. Zuhause ließ er ihnen freien Lauf. „Es tut mir leid, Adi“, schluchzte er. „Ich kann die Schule nicht für dich bezahlen.“ Meine Mutter stand in der Tür. Unter Tränen presste sie hervor: „Auch wenn du nicht in die Schule gehen kannst, musst du weiterlernen – auf dem Feld zwischen den Cassavas wirst du alles lernen, was du brauchst.“ Das tat mir furchtbar weh. Wenn mich meine Kinder heute fragen, wann sie in die Schule kommen, erinnere ich mich an diesen Schmerz. Damit sie eine Chance haben, würde ich meine Niere geben.
Info: Indonesien ist ein Inselstaat in Südostasien. Mit über 270 Mio. Einwohner:innen ist er der viertbevölkerungsreichste Staat der Welt. Dieser Artikel wurde im Jänner 2021 verfasst. Inzwischen wurde Adis Zuhause durch Erdrutsche und Sturzfluten, ausgelöst von Zyklon Seroja Anfang April, gänzlich zerstört. Sein Großvater kam dabei ums Leben. Seinen OP-Termin konnte Adi durch private Spenden vorerst absagen. Wie es mit ihm und seiner Familie weitergehen wird, ist jedoch unklar.
Julia Reiter hat eine private Spendenaktion für Adi gestartet. Sie hofft auf einen radikalen weltweiten Systemwandel, damit es solche Abhängigkeiten künftig nicht mehr geben muss.