Fotos: Brian Ongoro
Mit geschenktem Geld aus der Armut
In Kenia erhalten Tausende Menschen ein kleines Monatsgehalt, ohne dass sie dafür etwas tun müssen. Es ist das weltweit größte Experiment mit einem allgemeinen Grundeinkommen.
Als Mary Akoth davon erfuhr, dass sie fortan jeden Monat Geld geschenkt bekommen würde, bekam sie es mit der Angst zu tun. „Mein Leben lang musste ich immer hart arbeiten, um überhaupt zu überleben. Und dann kommt da jemand vorbei und sagt, füllt dieses Formular aus, dann erhaltet ihr Geld. Einfach so, ohne etwas dafür zu tun. Ich war mir sicher: Entweder ist es eine Lüge – oder wir werden noch teuer dafür bezahlen.“
Mary Akoth lebt in Magora, einem Dorf im Siaya County im Westen Kenias, nicht weit vom riesigen Victoriasee und fünfzig Kilometer von der Großstadt Kisumu entfernt. Ein Dorf in dieser Gegend ist manchmal kaum als solches zu erkennen, es stellt nicht unbedingt eine gewachsene Gemeinschaft dar und die Grenzziehung zum Nachbardorf ist zuweilen willkürlich. Die Häuser in Magora haben Wände aus Lehm und Dächer aus Wellblech, manchmal aus Stroh. Sie stehen weit auseinander. Jede der 65 Familien besitzt ein Landstück, auf dem sie wohnt, wo sie ein paar Hühner und anderes Kleinvieh hält sowie Felder mit Mais, Getreide und Gemüse bestellt. Ein Dorfzentrum gibt es nicht, Gemeinschaftsräume ebenfalls kaum, außer einer Schule. Selbst spirituell eint Bewohner_innen des Dorfes wenig: Sie gehören mindestens einem Dutzend verschiedenen christlichen Kleinkirchen an.
Mitten in Magora steht ein Wohngebäude, das deutlich robuster und größer gebaut ist als die umliegenden Häuschen. Dort serviert Mary Akoth einer Betagten gerade eine Tasse Tee. Die 37-Jährige arbeitet für die reichere Familie in deren Haus und auf deren Feldern. Dafür bekommt sie umgerechnet 18 Euro im Monat. Seit drei Jahren erhält Akoth dazu noch einmal etwa 20 Euro auf ihr Mobiltelefon überwiesen – so wie ihr Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Und so wie alle im Dorf, die über achtzehn Jahre alt sind. Akoth und die anderen erwachsenen Einwohner_innen von Magora waren die Ersten, die von der US-amerikanischen Organisation GiveDirectly ein Grundeinkommen erhalten haben. Das Dorf heißt eigentlich anders; GiveDirectly verlangt, dass keine Ortsnamen genannt werden, „um die Empfänger zu schützen“. In Magora testete GiveDirectly mit einem Jahr Vorlauf, was das philanthropische Unternehmen ab November 2017 in 197 kenianischen Dörfern durchführte: das weltweit größte Experiment mit einem Grundeinkommen. Während zwölf Jahren sollen rund 20.000 Menschen in Kenia ein garantiertes Einkommen von umgerechnet 20 Euro pro Monat erhalten. Das ist ungefähr der Betrag, den man auf dem Land zum Überleben braucht.
Die Idee, jedem ein Einkommen zu garantieren, das zumindest die Grundbedürfnisse abdeckt, ist so alt wie umstritten. Als sozialpolitisches Instrument ist es bisher noch von keinem Staat eingeführt worden. In der Schweiz wurde die Volksinitiative „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ im Juni 2016 von 77 Prozent der abstimmenden Bevölkerung verworfen. Die Regierung im indischen Bundesstaat Sikkim hat vor einiger Zeit angekündigt, spätestens 2022 allen 610.000 Bürger_innen ein garantiertes Einkommen zu geben.
Einzelne Versuche mit einem (allerdings nicht allgemeinen) Grundeinkommen gibt es hingegen bereits. In der kanadischen Kleinstadt Dauphin erhielten in den Siebzigerjahren die ärmsten Einwohner_innen jahrelang einen monatlichen staatlichen Zuschuss. In Finnland wurde 2000 Arbeitslosen während zwei Jahren rund 560 Euro pro Monat ausgezahlt. In der kalifornischen Stadt Stockton bekommen derzeit 125 Menschen mit niedrigem Einkommen während 18 Monaten 500 Dollar auf ihre Kreditkarte überwiesen. Die Folgestudien zu diesen Versuchen sind positiv. In Dauphin gingen die Kinder länger zur Schule, die Menschen waren weniger krank, fühlten sich besser und arbeiteten trotzdem nicht weniger. In Stockton wird das zusätzliche Einkommen tatsächlich für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel ausgegeben und nicht wie von manchen befürchtet für Alkohol und Drogen. Und auch in Finnland fühlten sich die unterstützten Arbeitslosen gesünder, konzentrierter und weniger gestresst. Der Versuch von GiveDirectly bewegt sich nun aber in einer ganz anderen Dimension. Das Experiment in Kenia erreicht viel mehr Menschen, es hat eine deutlich längere Laufzeit, und es steht sämtlichen Erwachsenen in den ausgewählten Dörfern zu, ist also tatsächlich bedingungslos und allgemein. Eine erste Folgestudie von Abhijit Banerjee, der kürzlich den Ökonomie-Nobelpreis erhielt, soll im kommenden Jahr erscheinen.
Auch in Kenia wird zuweilen befürchtet, dass die Geldgeschenke nicht zwangsläufig zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse führen werden. Sondern den Anreiz setzen könnten, weniger zu arbeiten sowie mehr Alkohol und andere Drogen zu konsumieren. Mary Akoth kam es nie in den Sinn, weniger zu arbeiten. „Wir können ja auch so nur knapp für die Schulgebühren aufkommen.“ Der Schulbesuch inklusive Lehrmittel und Mittagessen von drei Kindern kosten mehrere hundert Euro pro Semester – dies, obwohl die öffentlichen Schulen offiziell kostenlos sind. Damit sie vor Semesterbeginn das Schulgeld zusammenbekommt, zahlt Akoth die Hälfte des Grundeinkommens in eine Spargruppe ein, die sie mit vier weiteren Frauen gegründet hat. Jede bringt monatlich den gleichen Betrag ein, und jede erhält einmal alle fünf Monate den gesamten einbezahlten Betrag. Kenianer_innen nennen diese Art von Mikrobanking „merry-go-round“: Karussell. Auch alle anderen Eltern von Schulkindern in Magora sagen, dass sie einen Großteil des Grundeinkommens für die Schulkosten aufwenden. Das kann als Investition in die Bildung betrachtet werden – oder als Kompensation für das Versagen des kenianischen Staats, den Schulbesuch nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit kostenfrei zu machen. Möglicherweise besuchen dank dem Grundeinkommen mehr Kinder die Sekundarschule, die freiwillig ist. Aber andererseits haben die Behörden dadurch noch weniger Anreiz, das öffentliche Schulsystem zu verbessern.
Als Mary Akoth vor drei Jahren die erste Monatsrate überwiesen erhielt, wurde sie von GiveDirectly gefragt, was sie mit dem zusätzlichen Einkommen vorhabe. Akoth plante damals, viel zu sparen und später ein kleines Geschäft zu gründen. Doch solche Träume haben sich längst zerschlagen. „Seither ist die älteste Tochter in die Sekundarschule gekommen, und die ist viel teurer als die Primarschule“, sagt Akoth. Für Plista Aloo ist das Sparen ein wenig einfacher. Die 71-jährige Frau lebt allein in ihrem Häuschen. Ihr Ehemann starb vor über achtzehn Jahren, ihre sechs Kinder haben längst eigene Familien. Von ihrem Grundeinkommen zahlt sie einen Beitrag an die Schulkosten der Enkel_innen sowie eine Spende an ihre Kirche – und spart den Rest für Notfälle. Vor einer Weile hatte Aloo immerhin rund 110 Euro auf der Seite. Jahrelang hatte sie dafür gespart. Dann wurde sie krank, musste ins Spital – und weg war ihr Erspartes. So fließt das Zusatzeinkommen
bei fast allen Einwohner_innen in den alltäglichen Überlebenskampf. Das Grundeinkommen ist ein wichtiger individueller Zustupf, doch zu einer gemeinschaftlichen Entwicklung trägt es kaum bei. Ein Dorf wie Magora, wo fast alle ihren Lebensunterhalt als Kleinbauern verdienen, hätte Investitionen in die Landwirtschaft bitter nötig. Denn bisher ist jede Kleinbäuerin auf sich allein gestellt.
„Mein Mann und ich haben früher auch Landwirtschaft betrieben“, sagt Mary Akoth. „Aber wir hatten keine guten Erträge.“ Seither liegt ihr Land brach. Selbst erfolgreichere Kleinbauern geben an, dass sie jederzeit mit Missernten rechnen müssten, da die Regenfälle in den letzten Jahren oft ausgeblieben sind. „Wir bräuchten ein Bewässerungssystem und landwirtschaftliche Beratung“, sagt einer. Die Dorfgemeinschaft schafft es nicht, das Staatsversagen zu kompensieren. Durch das Grundeinkommen fließt eigentlich jeden Monat eine beachtliche Summe nach Magora. Doch bisher hat niemand versucht, die zusätzlichen Mittel zu bündeln und etwa die landwirtschaftliche Produktion gemeinsam zu verbessern und zu vermarkten. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn im Konzept des Grundeinkommens ist eine Umwandlung der individuellen Hilfe in kollektives Handeln nicht vorgesehen. Es geht vielmehr von soliden gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen aus. Deshalb würde in Industrieländern wie der Schweiz, Finnland oder den USA ein allgemeines Grundeinkommen weitgehend die bisherigen Sozialleistungen wie Arbeitslosen- und Sozialhilfe ersetzen. Begründet wird ein solcher Schritt zur Rationalisierung der Sozialsysteme oftmals mit demografischen und globalwirtschaftlichen Trends, etwa mit der Überalterung der Gesellschaft und der Digitalisierung der Arbeitswelt. Die Idee eines allgemeinen Grundeinkommens ist darum gerade bei denen beliebt, die den digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben: bei den Pionieren digitaler Technologie im kalifornischen Silicon Valley. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder Tesla-Chef Elon Musk sind davon überzeugt, dass die USA früher oder später ein allgemeines Grundeinkommen einführen werden – das wegen des prognostizierten Wegfalls vieler Arbeitsplätze zu einer Notwendigkeit werde.
Gewisse Philanthrop_innen im Silicon Valley sehen direkte Geldtransfers nicht nur als Allheilmittel für das US-amerikanische Sozialsystem, sondern auch für die globale Armutsbekämpfung. Tech-Milliardäre gehören denn auch zu den größten Spendern von GiveDirectly. Vor vier Jahren stieß Pierre Omidyar, Mitbegründer der digitalen Handelsplattform eBay, das Grundeinkommensexperiment in Kenia mit einer Spende von einer halben Million Dollar an. Mittlerweile beträgt das Budget für dieses Projekt 30 Millionen Dollar. Expert_innen – etwa Pranab Bardhan von der University of California in Berkeley – halten dagegen, dass ein Grundeinkommen in einem Entwicklungsland wie Kenia eine andere Funktion habe als in einem Industrieland. Hier, wo ein viel grösserer Teil der Bevölkerung mit extremer Armut, Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert ist, sollte ein Grundeinkommen andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut ergänzen und nicht ersetzen. In Kenia gibt es ambitionierte staatliche soziale Programme, bei denen etwa Waisenkinder und alte Menschen Geld von der Regierung erhalten. Und es gibt Schulstipendien für die ärmsten Familien.
Darauf weist auch Kennedy Aswan hin, der in Magora seit sieben Jahren als Dorfältester amtet – obwohl er erst vierzig Jahre alt ist. „Seit wir ein Grundeinkommen erhalten, gehen auf jeden Fall mehr Kinder in weiterführende Schulen“, sagt Aswan. Er sitzt in seinem renovierten Aufenthaltsraum und hofft, dass nach dem Ende des GiveDirectly-Experiments der kenianische Staat das Grundeinkommen weiter auszahlt – in Magora und den Nachbardörfern, die jetzt noch nicht von dem Programm profitieren. Vorher müsse die Regierung aber wirklich ihr Versprechen auf kostenlose Bildung einlösen, meint Aswan. „Das Geld aus Nairobi reicht nicht aus für unsere Dorfschule; wir mussten zusätzliche Lehrer anstellen.“ Um sich für ein Schulstipendium zu bewerben, musste man traditionellerweise ein Formular beim „Chief’s Office“ einreichen. Dieses vertritt die Zentralregierung in einem Gebiet, das über ein Dutzend Dörfer umfasst. Man brauchte die Unterschriften des Schulvorstehers, einer religiösen Autorität – und des Chiefs selbst. Um an ein Stipendium zu gelangen, waren also gute Beziehungen vonnöten. Das ist zwar nach einer politischen Dezentralisierung seit Jahren nicht mehr der Fall. Aber kaum jemand im Dorf weiß das, wie der Dorfälteste und verschiedene andere Bewohner_innen bestätigen.
Ob ein Grundeinkommen Menschen aus der schlimmsten Armut führen kann, ist die eine Frage. Eine ganz andere Frage ist, wie es bei einer Einführung im ganzen Land finanziert werden könnte. Für die Industrieländer erwarten Tech-Visionäre zwar einen Abbau der Arbeitsplätze, der aber einer hohen Wertschöpfung durch hochproduktive Roboter und andere digitale Errungenschaften gegenüberstehen würde. Der Staat könnte einen Teil davon abschöpfen und über das Grundeinkommen umverteilen – so die schöne Theorie. Doch in den Entwicklungsländern können nicht einmal die größten (oder naivsten) Optimisten auf eine ähnliche finanzielle Basis hoffen. Kenia ächzt schon jetzt unter einem Schuldenberg von etwa 56 Milliarden Euro. Um das zu ändern, bräuchte das ostafrikanische Land – wie auch viele andere Entwicklungsländer – eher eine politische als eine technische Revolution. So ist auch noch völlig unklar, ob die Initiative von GiveDirectly eines Tages ausgeweitet oder überhaupt irgendwie weitergeführt werden kann.
Mary Akoth in Magora macht sich darüber nicht zu viele Gedanken. Die Angst, dass sie irgendwann für die Überweisungen wird büßen müssen, ist verflogen. Aber falls die monatlichen Zahlungen eines Tages versiegen, werden Akoth und ihre Familie nicht verzweifeln: „Dann kommt bestimmt eine andere Chance.“