TEXT: JULIA REITER
„Ist es überhaupt gewollt, dass Menschen den Aufstieg schaffen, oder ist es nicht eh so, dass wir die Menschen brauchen, die für uns putzen und am Bau arbeiten?“
Warum muss Schule lernen, allen eine Stimme zu geben? In ihrem gleichnamigen Bestseller „Generation Haram“ gibt Melisa Erkurt Antworten. Gemeinsam mit Sarah Kieweg (Radio Helsinki) und Brigita Balaj (Futter) hat Megaphon-Redakteurin Julia Reiter die ehemalige Lehrerin und Journalistin im Rahmen eines Vortrags in Graz zum Interview getroffen. Ein Gespräch über die vielen Hürden, mit denen Migrantenkinder zu kämpfen haben. Und wie Schule doch gelingen könnte.
Melisa Erkurt, Ihr Buch trägt den Titel „Generation Haram“. Was bedeutet das eigentlich?
„Haram“ bedeutet im Islam „verboten“. Vor vier Jahren habe ich eine Reportage mit diesem Titel veröffentlicht, bin damals durch Schulen getourt und habe gesehen, dass muslimische Burschen muslimischen Mädchen mit „Haram“-Rufen das Leben schwer machen. Wenn ein Mädchen einen tiefen Ausschnitt hat: Haram! Wenn sie über die Menstruation spricht: Haram! Damals bin ich draufgekommen, dass diese Jungs eigentlich gar keine Ahnung vom Islam haben, sondern sich die einzige verfügbare Macht in dieser Gesellschaft, die ihnen als Mohamed und Ali bleibt, zurücknehmen – nämlich die Macht über die Mädchen. Denn wo stehen sie sonst, die Mohameds und Alis, in unserer Gesellschaft, außer auf den Titelseiten der Tageszeitung „Österreich“? Der Titel deswegen, weil die „Generation Haram“ so wirkt, als würde sie Probleme machen, doch in Wirklichkeit hat sie die Probleme.
Sie sind in Sarajevo geboren und als Baby mit Ihrer Mutter vor dem Bosnienkrieg nach Österreich geflüchtet. Sie haben also Ihre gesamte Bildungslaufbahn in Österreich verbracht. Was haben Sie in der Schule am meisten vermisst?
Das Thematisieren der Erfahrungen, die mir entgegenschlugen. Ich dachte immer, es liegt an mir, wenn sich Mitschüler_innen über meinen Glauben oder meine Aussprache lustig gemacht haben. Ich dachte immer, das seien Dinge, an denen ich schuld bin. Es wurde nie das Wort Rassismus oder Diskriminierung ausgesprochen. Erlebt habe ich das aber sehr wohl – auf individueller Ebene durch Mitschüler_innen und Lehrer_innen und natürlich auch durch das System selbst. Denn dieses verlässt sich darauf, dass man zuhause Eltern hat, die genug Zeit und Geld haben, um dir zu helfen, und die hatte ich nicht. Ich musste alles selber aufholen und viel mehr leisten als Schüler_innen aus Akademiker_innenfamilien ohne Migrationshintergrund. Das ist strukturelle Diskriminierung.
Ein Kapitel trägt den Titel „Was ist eine Brennpunktschule?“. Welche Assoziationen haften denn an diesem Begriff und was lösen diese bei Kindern aus?
Wir Erwachsene wissen genau, was das ist – nämlich eine Schule mit hohem Migrationsanteil, mit Kindern aus unteren sozialen Schichten, aus ärmeren Elternhäusern. Erst wenn man es den Kindern selbst erklären muss, kommt man in Erklärungsnot. Sag‘ einmal einem Kind: „Das ist eure Schule, weil ihr arme Kinder oder Migrantenkinder seid!“ Da merkt man erst, was für ein hässlicher Begriff das ist. Allerdings bringt es uns auch nichts, irgendwelche Kuschelbegriffe als Alternative zu verwenden, wenn wir das eigentliche Problem nicht lösen – nämlich, dass an diesen Schulen die Kinder viel seltener den Bildungsaufstieg schaffen als an den „guten“ Schulen in den „guten“ Bezirken mit den „guten“ Kindern.
Kurt Hohensinner, unser Grazer Bildungsstadtrat, möchte durch „Magnet Schools“ – Schulen mit Anziehungskraft durch Schwerpunkte – die Durchmischung von Schulen fördern, „Brennpunkte“ entschärfen und gleiche Bildungschancen schaffen. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?
Jeder Schritt, den man versucht, ist besser als keiner. Vieles läuft aber auch über Wohnpolitik. Wenn diese „Magnet Schools“ in den „schlechten“ Gegenden sind, werden die Bobo-Eltern ihre Kinder trotz Musikschwerpunkt nicht dorthin geben. Daher sollte man vor allem darauf achten, auch die „besseren“ Schulen zu durchmischen, nicht nur die „Brennpunktschulen“.
Wohin man sein Kind in die Schule schickt, ist also maßgeblich vom Wohnort abhängig. Müsste man dann hinsichtlich der Durchmischung nicht schon beim Wohnen ansetzen und schauen, dass Wohneinheiten in „guten“ Gegenden auch für einkommensschwächere Familien leistbar werden?
Richtig. Mit einer Quote kann man zum Beispiel verhindern, dass immer nur die Geschwister den Schulplatz bekommen. Bildung wird vererbt. In Wien ist es sogar teilweise so, dass Eltern einen falschen Meldezettel ausfüllen, damit Kinder in den „guten“ Bezirken in die Schule gehen können, und zwar die Akademiker_inneneltern, bei denen es eh wurscht wäre, wohin ihr Kind geht. Das ist geboren und hat den Aufstieg damit schon geschafft. Das zeigen die Zahlen. Gerade diese Eltern glauben, dass sie zusätzlich die tolle, wichtige Privatschule brauchen, und trauen sich nicht, ihre Kinder in eine Schule zu schicken, wo es halt Durchmischung gibt. Da muss es auch Aufklärung bei Eltern geben.
Welche Maßnahme wäre besonders wichtig, um unser Schulsystem diverser zu machen?
Als Träumerin würde ich sagen: Gesamtschule bzw. Ganztagsschule. Allerdings braucht man nur ein „G“ auszusprechen und eine gewisse Partei zuckt aus. Als Realistin würde ich sagen, man müsste bei der Lehrer_innenausbildung ansetzen. Da könnten sich auch alle Parteien darauf einigen und die Ausbildung praxisnaher machen und den Lehrer_innen Werkzeuge mitgeben, um in einem diversen Klassenzimmer zu unterrichten, die eigenen Rassismen zu reflektieren usw. Aber das alles sagen Expert_innen schon seit über 50 Jahren. Die eigentliche Frage ist, warum ändert die Politik das nicht, obwohl sie „weiß“, was es bräuchte, um soziale Ungleichheit in der Schule zu durchbrechen. Die Frage ist also: Ist es überhaupt gewollt, dass Menschen den Aufstieg schaffen, oder ist es nicht eh so, dass wir die Menschen brauchen, die für uns putzen und am Bau arbeiten? Ist es nicht eh okay, dass es immer dieselben Menschen aus denselben sozialen und kulturellen Milieus sind?
Es gibt auch „einheimische“ Familien aus sozial benachteiligten Milieus, deren Kinder weniger Chancen auf Bildungsaufstieg haben. Wenn von dieser Seite Kritik an Ihren Forderungen kommt, ist das für Sie nachvollziehbar?
Nachvollziehbar, ja. Trotzdem finde ich es etwas ignorant. Warum muss, wenn eine Person mit Migrationshintergrund über Rassismus spricht, immer die Antwort folgen: „Ja, aber wir haben auch Probleme“? Abgesehen davon leugne ich diese auch nicht. Ich spreche ganz oft auch nur von Arbeiter_innenmilieus bzw. Arbeiter_innenfamilien. Nur: Wenn man selber ein Arbeiter_inkind ist und viele Rückschläge erlebt habt, sollte man sich erst recht vorstellen können, wie es erst einem Arbeiterin_kind gehen muss, das zusätzlich Migrationshintergrund und vielleicht noch muslimischen Background hat.
Haben Sie das Gefühl, dass sich in letzter Zeit insbesondere durch die Bewegung „Black Lives Matter“ etwas im Bewusstsein der Menschen tut, vor allem in Hinblick auf die Bildungsdebatte?
Ich glaube, die Menschen sehen den Konnex zur Bildungsdebatte nicht. Sie glauben, Rassismus ist etwas in Amerika. In Österreich sei das Thema nicht so groß. Polizeigewalt komme auch eher in Amerika vor. Schon gar nicht schafft man die Verbindung zur Schule. Dabei gibt es so viele Menschen, die nicht „weiß“ sind, die sagen, dass sie vom ersten Schultag an, das Gefühl hatten, anders bewertet zu werden, weil sie nicht in das Schema des guten Schülers reinpassten. Ich habe gesehen, wie Burschen mit Migrationshintergrund bewertet wurden. Da hieß es plötzlich, die seien wild. Die seien schlimm. Und wenn ein Maximilian dasselbe Verhalten an den Tag gelegt hat, dann war er halt in der Pubertät oder er ärgerte die Anna, weil er in sie verliebt war. Beim Ali hieß es, der sei ein sexistischer Macho. Das ist eine Doppelmoral. Wir alle haben Vorurteile und Stereotype. Das Gefährliche ist, wenn wir sie an jungen Menschen anwenden, weil da ganz viele Schicksale dranhängen. Viele haben Frust und brechen die Schule ab, weil sie solche Dinge erleben und nicht an sich selbst glauben.
Wie erklären Sie sich, dass in Schulen so wenig über Rassismus gesprochen wird?
In der Lehrer_innenausbildung kommen diese Themen nicht vor. Wenn, dann spricht man höchstens über Interkulturalität und das auch nur in einzelnen Seminaren. Es geht nie darum, welche problematischen Begriffe wir als Lehrer_innen verwenden. Die wenigen Interkulturalitätsworkshops sind nicht von Menschen konzipiert, die Erfahrungen mit Diversität haben. Die Menschen, die die Lehrpläne erstellen und die die Lehrstühle innehalten, sind lauter Menschen aus oberen sozialen Schichten ohne Migrationshintergrund. Klar gibt’s einzelne motivierte Lehrer_innen, die sich selber etwas zusammenbasteln, aber im Studium kommt’s einfach viel zu kurz.
Was braucht es für Reformen an den Pädagogischen Hochschulen?
Es bräuchte diesen Lehrstuhl, den es in Deutschland auch gibt – „Bildung und Erziehung in der Migrationsgesellschaft“ – wo Themen wie soziale Ungleichheit oder Diskriminierung gelehrt werden. Ich sehe in Österreich nur niemanden, der Interesse hat, diesen Lehrstuhl einzuführen. Wir haben in der österreichischen Bildungspolitik soziale Ungleichheit nie in den Mittelpunkt gerückt.
Das heißt, Deutschland hat Österreich da etwas voraus?
Wie so oft, ja. Doch auch da ist nicht alles ideal. In Skandinavien funktioniert vieles gut. Da gibt es ganze Teams von Pädagog_innen aus dem Sozial-, Sportoder Theaterbereich, die jeden Tag von acht bis 16 Uhr anwesend sind und nicht wie in Österreich einmal im Monat kommen. Wenn die Schulpsychologin einmal in drei Wochen da ist, geht doch kein_e Schüler_in zu ihr. Das kriegen dann ja die anderen mit. Das ist so praxisfremd, dass ich mich frage, wie man das überhaupt legitimiert. Auch die Lehrer_innen berichten andauernd, wie überfordert sie sind. Meine Ex-Kolleg_innen rufen teilweise ihre Schüler_innen in der Früh mit einem Weckruf an, weil deren Eltern schon um fünf aus dem Haus müssen, um arbeiten zu gehen. Das wäre eigentlich die Aufgabe der Sozialarbeiter_innen, aber die gibt es einfach nicht.
Liegt es nicht auch an Eltern, die sich nicht integrieren wollen, dass es ihre Kinder so schwer haben?
Ich glaube, das kann man pauschal nicht beantworten. Ich frage mich oft, was Integration überhaupt ist und warum sich jemand nicht integrieren wollen sollte. Im Endeffekt haben ja die Menschen, die sich nicht integrieren, die eigentlichen Probleme. Einem Max oder einer Anna kann’s wurscht sein, ob sich Migrant_innen integrieren oder nicht. Noch besser: Wenn die sich nicht integrieren, bleiben die ganzen Uniplätze und guten Jobs für die Mehrheitsgesellschaft übrig. Die Frage ist: Was verstehen wir unter Integration? Fordern wir in Österreich nicht viel mehr Assimilation (Anm.: Anpassung)? An der Vienna International School können die Lehrer_innen kaum Deutsch, obwohl sie seit 30 Jahren hier sind. Da sagt auch keiner, die Integration sei gescheitert. Wir haben ein bestimmtes Bild davon im Kopf, von wem wir glauben, dass sie sich nicht integrieren.
Passen sich Menschen mit Migrationshintergrund zu schnell an? Sollten sie mehr für sich selbst einstehen?
Ja, aber ich verstehe es auch total. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Kampf er führt. Ich weiß, dass ich von der Mehrheitsgesellschaft nur einen gewissen Grad an Verständnis einfordern kann, und ich will sie auch nicht überfordern. Ich möchte keinen Keil zwischen uns treiben. Manchmal haben ich das Gefühl, dass gerade jene, die eh auf der Seite der Migrant_innen wären, sich dann vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn ich z.B. darum bitte, meinen Namen richtig auszusprechen. Sie denken sich dann: „Na, was noch alles? Ich tu‘ ja eh schon …“ Ich weiß dann zwar, dass ich im Recht bin, aber ich bin eben auch nur ein Mensch und wünsch‘ mir Harmonie.
Was raten Sie Mitschüler_innen von migrantischen Schüler_innen, die von Lehrer_innen rassistisch behandelt werden?
Dafür gibt es jetzt diesen schönen Begriff der „Allies“ (Anm.: Verbündete). Sie können wirklich etwas ändern. Denn oft trauen sich Migrant_innen nicht, diese Kämpfe zu führen. Häufig braucht man Selbstbewusstsein und eine akademische Sprache, um Kontra bieten zu können. Abgesehen davon bedeutet es oft psychischen Stress und man ist überrumpelt, wenn man diskriminiert wird. Jene Menschen, die das Privileg haben, nicht von Diskriminierung betroffen zu sein, sollten dieses nutzen, um für Betroffene einzustehen. Das ist eine Form von Zivilcourage. Die sollten wir unseren Kindern und Jugendlichen von klein auf beibringen. Auch in der Schule – wo sonst!
Susanne Wiesinger, Autorin von „Kulturkampf im Klassenzimmer“, wurde vom Bildungsministerium eingeladen, an der Verbesserung der Situation mitzuarbeiten. Warum werden Sie nicht gebeten mitzuhelfen bzw. wollen Sie das überhaupt?
Susanne Wiesinger hat sogar eine eigene Ombudsstelle für „Kulturkonfl ikte und Wertefragen“ bekommen. Aber passiert ist nix. Wenn nichts dahintersteckt, will ich so etwas auch nicht machen. Es gibt zwar viele Anfragen, um Gespräche mit mir, aber ich sehe den Sinn dahinter nicht. In meinem Buch und den Büchern von vielen Expert_innen steht alles, was es dazu zu sagen gibt. Es braucht keine Gespräche mehr. Es braucht Lösungen und konkretes Umsetzen. Und ich fürchte, daran ist die Bildungspolitik nicht interessiert. Mit meinen Forderungen kann man keine Wahlkämpfe gewinnen, mit Kopftuchmädchen schon.
Ihr Buch richtet sich vor allem an die Verlierer_innen des Bildungssystems. Was möchten Sie diesen Schüler_innen mitgeben?
Lernt Deutsch, um euch über Österreich zu beschweren, nicht weil ein Politiker euch das vorschreibt. Lernt Deutsch, um auf Missstände hinzuweisen! Macht euch die Sprache zu eigen und zu eurem Werkzeug! Ich habe mein Buch mit dem Satz beendet: Nun sind Sie dran! Und habe das auch ernst gemeint. Ich fürchte, ohne Druck wird sich nicht viel tun. Wir haben es gerade bei der Klimakrise gesehen. Da wussten auch alle Politiker_innen, wie spät es schon ist, und erst als Jugendliche auf die Straße gegangen sind, hat sich was geändert. Vielleicht bräuchte es eine Greta Thunberg für die Bildungskrise, damit sich wirklich was tut.
MEGAPHON MIT TON
Das ganze Gespräch mit Melisa Erkurt zum Nachhören im Megaphon-Podcast „Megaphon mit Ton‟ (www.megaphon.at/strassenmagazin/megaphon-mit-ton/) auf allen gängigen Plattformen.