Text: Julia Reiter
„Noch vor einem Monat hatte ich überlegt, irgendwann nach Afghanistan zurückzugehen. Jetzt sehe ich keine Hoffnung mehr.“
Anfang Mai begann der Abzug der USamerikanischen Truppen aus Afghanistan. Nach 20 Jahren der Besatzung wird das Land nun sich selbst überlassen. Und von der Gewalt der Taliban überrollt. Unserem Megaphon- Mitarbeiter Torabi Mahboobullah bereitet all das schlaflose Nächte. Denn seine erste Heimat scheint verloren.
„Am 28. August gehen wir auf die Straße, um gegen Abschiebungen nach Afghanistan zu demonstrieren. Bist dabei?“, fragt mich Torabi zwischen Tür und Angel unseres Büros. Seine Augen leuchten vor Motivation. Was für mich eine weitere von – zig Demos ist – wichtig, aber nicht existentiell wichtig –, bedeutet für unseren Vertriebsmitarbeiter weit mehr. Was genau? Das will Torabi mir gerne in Ruhe erzählen.
„Ich komme aus einer Region namens Schinwari“, beginnt Torabi und hilft mir geduldig bei der Rechtschreibung des mir völlig neuen Terrains. „Möchtest du sehen, wie es jetzt dort zugeht?“ Er zückt sein Handy und zeigt mir ein Bild von Männern auf Panzern mit gehisster Taliban- Flagge. Eine Aufnahme von unzähligen Schüssen. Ein Video von Senioren, die weinen und schluchzen. Torabi bricht es ab. „Da kann ich fast nicht hinschauen“, sagt er. „Noch vor einem Monat hatte ich überlegt, irgendwann nach Afghanistan zurückzugehen. Jetzt sehe ich keine Hoffnung mehr. Wir haben alles verloren.“ Über eine WhatsApp-Gruppe bleibt er mit Menschen, die noch in Afghanistan leben, in Kontakt. Viele von ihnen sind inzwischen in Berghöhlen geflüchtet, um sich vor den Taliban in Sicherheit zu bringen. – Doch welche Sicherheit? Die gibt es inzwischen nirgendwo mehr. Was Torabi sichtbar fassungslos stimmt, ist das rasante Tempo, mit welchem die Gewaltwelle der Taliban über sein Land hereingebrochen ist. „Das Einzige, was wir jetzt noch tun können, ist das Volk da rauszuholen“, meint er. „Doch was Österreich macht, ist das Gegenteil. Die Regierung möchte weiterhin Menschen nach Afghanistan abschieben.“
Torabi selbst droht keine Abschiebung. Das hat er unter anderem seinem unermüdlichen Fleiß und Engagement zu verdanken. Nach einem ersten negativen Asylbescheid tat er alles in seiner Macht Stehende, um seine Chancen zu erhöhen. Er stand jeden Tag um 6 Uhr morgens auf, arbeitete ehrenamtlich bei verschiedenen Einrichtungen, machte einen Deutschkurs nach dem anderen. Bei seinem zweiten Gerichtstermin konnte
er 70 Bestätigungen seines Engagements vorweisen. Das beeindruckte den Richter. Unter all den 2.000 Anträgen im Laufe seiner Karriere sei ihm niemand untergekommen, der so fleißig war. Torabi hat heute einen positiven Asylbescheid. Ein Freund von ihm, welcher aus einer gefährlicheren Region stammt als Torabi, wartet seit acht Jahren auf einen positiven Bescheid. Ihm droht nun die Abschiebung in die Hölle auf Erden. „Er ist leider immer erst um elf Uhr aufgestanden“, bedauert Torabi. Als ich verstehe, was er meint, bin ich fassungslos. In was für einem System leben wir, wo die Leistung eines Menschen über Leben und Tod entscheiden kann?!
Seine ambitionierte Ader hat Torabi nicht auf der Zuckerseite des Lebens entdeckt. Sie ist der Not entsprungen. Auf seinem Handydisplay sind zwei Buben und ein junger Mann zu sehen. „Das bin ich mit meinem jüngeren und meinem älteren Bruder“, deutet er. Ich habe noch nie von ihnen gehört und traue mich fast nicht zu fragen. „Mein älterer Bruder wurde von den Taliban erschossen“, erwidert Torabi meinen fragenden Blick. „Drei Tage vor seiner Hochzeit. Wir waren gerade dabei, alles vorzubereiten. Ich erinnere mich daran, wie rot das Brautkleid danach war.“ Mein Atem stockt. Torabis sonst stets fröhlich gelaunte Miene verdüstert sich. Hoffnungsvoll frage ich nach dem jüngeren Bruder. „Der Kleine ist verschwunden“, sagt Torabi knapp. Wir kämpfen mit unseren Tränen um die Wette.
Torabi ergreift das Ruder, bewahrt uns vor einer Sintflut aus Tränen. Er hat seine Kraft wiedergefunden und führt seine Erzählung fort. Danach seien die Taliban wieder zu seiner Familie nachhause gekommen und hätten einen Mann für ihre Truppen gefordert. Doch es gab keinen. Großer Bruder und Vater waren beide tot. Also musste die Familie die Taliban bezahlen. Sie verkauften ihre beiden Tiere. Als nichts mehr übrig war und selbst in den Zimmerecken keine Brotkrümeln mehr zu finden waren, musste der junge Torabi aktiv werden. „Ich habe begonnen, Eier zu verkaufen“, erinnert er sich zurück. „Ich habe so, so viel
gearbeitet und war unglaublich fleißig.“ Ein leichter Anflug von Stolz macht sich auf seinem Gesicht breit.
Zu arbeiten und zu leben sei auch alles, was Torabi sich hier, in seiner zweiten Heimat, wünsche. Dass die österreichische Regierung und manche Menschen das nicht sehen und gegen ihn und andere Afghan:innen Stimmung machen, stimme ihn sehr traurig. Gerade in letzter Zeit erlebt Torabi immer mehr rassistische Situationen auf der Straße. „Ich habe zwar schwarze Haare, aber ich bin trotzdem ein Mensch wie jeder andere auch“, erklärt er, was leider nicht selbstverständlich zu sein scheint. „Julia, ich schwöre dir, es ist nicht meine Schuld, dass mein Vater gestorben ist oder mein Bruder oder dass ich hierher kommen musste.“ Er schaut mich verzweifelt an. Und vielleicht auch etwas müde. Vor mir sitzt ein 26-jähriger Mann, der eine Fülle an Erlebnissen auf seinen Schultern trägt, welche für 100 Leben reichen würde. Seit einer Woche hat Torabi Kopfschmerzen und kann nicht mehr schlafen. Die Bilder und Videos, die Sorge um seine erste Heimat verfolgen ihn rund um die Uhr. „Wenn ich die Möglichkeit hätte, in Afghanistan zu leben, würde ich sie sofort nutzen“, beteuert Torabi. „Aber momentan kann man dort nur sterben.“