Fotos: Arno Friebes
„Ich habe keine Ahnung, sondern ich habe eine Geschichte“
Zaid Alsalame aus dem Irak liebt das Theater. Vier Jahre nach seiner Ankunft in Österreich feiert er mit seiner ersten eigenen Solo-Performance in deutscher Sprache im Grazer TiB Premiere. Dabei geht es um Käse, Freiheit und Angst vor Migration. Anlass für Sigrun Karre, sich nicht nur ein Bild, sondern gleich mehrere Bilder von ihm zu machen.
„Ich habe keine Ahnung, sondern ich habe eine Geschichte!“, heißt es in Zaids Theatertext. Eben um seine Geschichte zu hören, möchte ich ihn kennenlernen. Neben Selbstironie besitzt Zaid ganz offensichtlich eine Extraportion Optimismus. An einem klischeehaften November-Tag mit Dauerregen und Temperaturen im unteren einstelligen Bereich schlägt er mir für unser Treffen gegen Ende der Woche ein Standl-Lokal am Lendplatz-Markt vor, denn er hoffe, wie er mir schreibt, wir könnten dort im Gastgarten ein paar Sonnenstrahlen genießen. Bei fast winterlichen Außentemperaturen und lückenloser Wolkendecke treffen wir uns dann doch IM Lenz am Lend.
Zumindest emotional benötigen wir keine Aufwärmphase. Ein gut gelaunter junger Mann drückt mich gleich zur Begrüßung mit einer Herzlichkeit, als ob wir alte Freunde wären; ein steirisch eingefärbtes „Servas“ auf den Lippen, ohne den geringsten Anflug von stimmungsmäßiger Wetterfühligkeit. Das rituelle österreichische Jammern übers Wetter zwecks Gesprächsanbahnung hat er sich nicht angeeignet, mit Menschen reden fällt ihm leicht. Zaid, 27, kommt aus Bagdad. „Bin mal kurz hierher spaziert“, witzelt er über die strapaziöse Flucht, jenes Ereignis, das sein Leben komplett verändert hat. Seine Lebenseinstellung ist von Humor mit tiefschwarzen Sprengseln geprägt, auf der Bühne macht er dann auch mal Satire daraus.
In Bagdad war Zaid kommunistischer Aktivist, machte Theater, las Marx, trank heimlich Alkohol und träumte von Freiheit und einer besseren Welt. Klingt nach harmloser jugendlicher Bohemien-
Romantik mit Retrofaktor, wenn man westliche Maßstäbe ansetzt. Was bei uns schnell reine Pose wäre, kann anderswo zum Problem werden. Im Irak lebt man auch nach dem Ende der Hussein-Diktatur mit eigenen Gedanken und Vorstellungen vom besseren Leben gefährlich, sobald sie das private Kopfkino verlassen. Insbesondere wenn man sich für Menschenrechte im Allgemeinen und Frauenrechte im Speziellen einsetzt, wie es Zaid tat. Eine echte Theaterszene gab und gibt es in Bagdad nicht. Nach wie vor gilt: Keine andere Kunstform steht so sehr unter „Revolutionsgeneralverdacht“, was außerhalb von lupenreinen Demokratien gerne die Zensur auf den Plan ruft.
Man spielte auf der Straße oder wo eben gerade Platz und „die Luft rein“ war und solange, bis die Polizei die Performance räumte. Zwei besondere Fähigkeiten dürfte Zaid in dieser Zeit entwickelt haben, die ihm sowohl auf der Bühne als auch im Leben nützlich waren und sind: Improvisation und Spontanität. Die Aktivitäten seiner Theater-Gruppe in Bagdad waren mäßig erfolgreich, wenn es nach Publikumszahlen geht, bilanziert er. Dennoch reichte es, um die Aufmerksamkeit der Miliz auf sich zu ziehen. Gewalt auf den Straßen war Alltag für Zaid und seine Gruppe. Bagdad, das seit Jahrzehnten immer wieder den zweifelhaften Titel der gefährlichsten Stadt der Welt verliehen bekommt, ist für Menschen, die sich nicht anpassen, sondern rebellieren oder auch nur auffallen, eine Hochrisikozone. Als Sohn eines sunnitischen Vaters und einer schiitischen Mutter, saß er auch in diesem Konflikt zwischen den Stühlen. Über manche Dinge, die er in Bagdad erlebt hat, konnte er damals mit niemandem reden und möchte es auch heute nicht. Die aktuelle Entwicklung im Irak hingegen verfolgt er genau. „Was heute in Bagdad geschieht, sind nicht einfach ein paar Demonstrationen, es ist der Beginn einer Revolution“, meint er, die Leute seien aufgewacht, zugleich verrät sein schlagartig ernster Gesichtsausdruck, wie sehr ihm die Situation Sorge bereitet; den Kampf um Freiheit gibt es derzeit in Bagdad nur zum Preis von Menschenleben. Beinahe wöchentlich erhöht sich die Zahl der Todesopfer der aktuellen Protestbewegung.
Schlussendlich wurde der Druck und die Gefahr zu groß – Zaid musste den Irak verlassen. 2015 kam er im steirischen Leoben an, dort war Kontakt zur Bevölkerung kaum vorhanden. Als er 2016 dann in ein Flüchtlingsheim in Graz übersiedelte, folgten die positiven Kapitel seiner Geschichte in Europa. „Ich kam nur zum Schlafen ins Heim, war den ganzen Tag unterwegs, habe mit Leuten gesprochen, und bin, sooft es ging, ins Theater gegangen.“ (Anm.: Dank der Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ haben auch Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit, an ausgewählten Kulturveranstaltungen in der Steiermark sowie weiteren österreichischen Bundesländern teilzunehmen.), sprudelt es aus ihm heraus. Die lebendige Theaterszene vor Ort begeisterte ihn, der Wunsch, sich selbst theatral auszudrücken, war schnell wieder da. Da am Anfang noch die (deutschsprachigen) Worte fehlten, begann Zaid mit Pantomime. In Windeseile war er in die Grazer Off-Theater-Szene involviert. Über den Kunstverein „<rotor>“ war er 2017 und 2018 beim steirischen Herbst engagiert, er spielte bei Wrentschurs Forumtheater Interact, im Doppel mit TiB- und Filmschauspielerin Pia Hierzegger gab er im Orpheum einen Sketch zum Besten, besuchte diverse Workshops und Theaterkursschre. Integration durch Unangepasstheit könnte man schlussfolgern. Aber auch: Integration durch Kultur, durch Theater. Zaid ist nicht der „brave, unauffällige Flüchtling“, der Österreich mit Hofknicks eine Dankesrede hält, eher der Schelm, der einen mit bissiger Satire zum Lachen bringt, bis es an den richtigen Stellen weh tut. Als Teil des schrägen Kunst-Kollektivs „nest.treu.beschmutzer.innen“, ebenso wie als Solo-Performer seines „One-Man-Stückes in Progress“, dessen erste „Fragmente“ er 2018 und 2019 beim Kunst-Festival KOMM.ST in Weiz aufführte. Ed Hauswirt, Chef des Grazer Vorzeige-Off-Theaterbühne TiB, beschreibt Zaid, der auch bei der kommenden TiB-Produktion „Oktoberfest“ engagiert ist, als spielerischen Menschen, der die nötige Hingabe und Neugier mitbringt, um seinen Weg als Schauspieler zu gehen: „Zaid ist definitiv eine Bereicherung für Graz“.
Seine Natürlichkeit, sein Humor und seine Lebensfreude sind einnehmend und beeindruckend gleichermaßen, denn das Leben eines Geflüchteten bleibt auch nach der Ankunft in Europa denkbar schwierig. Der jahrelange Schwebezustand durch die sich dahinschleppenden Asylverfahren, die zermürbende Bürokratie, die Unsicherheit, die zunehmend negativere Einstellung der Bevölkerung zum Thema Asyl machen so gut wie allen Geflüchteten zu schaffen. Zaid rückt die Relationen zurecht: „Im Irak steht täglich dein Leben auf dem Spiel, dafür nehme ich die Probleme in Österreich in Kauf.“ Vermutlich hat Zaid auch geholfen, dass er bereits in Bagdad nicht zum Mainstream gehörte und sich nicht über gesellschaftliche Akzeptanz oder Zugehörigkeit definierte, sondern früh eine starke Persönlichkeit entwickelt hat. Denn auch er hat einen erstinstanzlichen Negativ-Bescheid bekommen, seine Zukunft ist weiterhin ungewiss. Mittlerweile spielt gute Integration kaum eine Rolle mehr für den Ausgang von Verfahren, wie man immer öfter erfährt. Die Reisewarnung höchster Stufe für den gesamten Irak ist seit Jahren unverändert aufrecht: was dem „Westler“ als lebensgefährliches „No-Go-Land“ gilt, sei dem „Flüchtling“ zumutbar. Diese Ambivalenz, die Spaltung in „Wir“ und „Die“, die die Menschenrechte ad absurdum führt, hat auch Spuren hinterlassen in der Stimmungslage der Gesellschaft. „Ich wurde in Bagdad geboren. Ich bin Muslim, ich spreche Arabisch. Das ist klar. Aber ich weiß nicht, ob das meine Entscheidung war“, heißt es dazu ironisch in Zaids Theatertext.
Neben seinen Theateraktivitäten ist er stellvertretender Präsident von „Kontra.Punkt – Verein für kritische Bildung“, für den er in den vergangenen Jahren über das Projekt „Genauer hinschauen“ rund 70 Klassen in der Steiermark besucht hat, um Aufklärungsarbeit zu leisten und Social-Media-Mythen vom „reichen Flüchtling“ mit Fakten aus der Welt zu schaffen. Wieso suchen Menschen um Asyl an? Wie viel Geld steht ihnen monatlich zur Verfügung? Sachliche Information und persönliche Begegnung schützen vor irrationalen Ängsten und Vorurteilen, diese Erfahrung hat Zaid immer wieder gemacht. Einfach mehr und immer wieder miteinander reden, wäre so ein simples Rezept, um sich zu begegnen.
Zaid teilt sich gerne mit, er ist, was seltener ist, auch ein sehr aufmerksamer Zuhörer; Menschen interessieren ihn. Nationalität, Religion, Alter oder andere Kategorien, die gerne verwendet werden, um Menschen einzuordnen, spielen in Zaids Weltbild keine große Rolle. So hat es sich ergeben, dass er in Österreich zwar viele Kontakte und Freundschaften zu verschiedensten Menschen geschlossen hat, ausgerechnet Iraker_innen seien jedoch nicht dabei. Das sei nicht Absicht gewesen, habe sich aber einfach nicht ergeben und hat wohl mit der Haltung zu tun, die im Titel seines Theaterstücks anklingt: „Ich liebe mich, wenn ich nackt bin.“ Auch an anderen Menschen mag Zaid das, was als Wesenskern übrigbleibt, wenn man Zuordnungen, Vorurteile und Äußerlichkeiten weglässt. Der Wunsch nach Freiheit hat für ihn viel mit dem Wunsch zu tun, sich von Dogmen zu befreien, authentisch als Individuum zeigen und gegenseitig wahrnehmen zu können. Graz bietet ihm dazu die Chance.
Hinter ihm stehen mittlerweile viele Menschen in der Stadt, diese feierten mit ihm im Herbst letzten Jahres ein Fest mit jeder Menge Musik, um ihre Solidarität mit Zaid zu bekunden und ein Zeichen zu setzen. Schauspieler und Musiker Florian Köhler war einer der Gäste, die an diesem Abend für Zaid zur Gitarre griffen. „Schuld“ daran ist ausgerechnet Ayad Akhtars „Geächtet“. Das preisgekrönte kontroversielle „Migrations-Stück“ lief 2016 am Schauspielhaus Graz. Zaid saß im Publikum und war besonders von einem Schauspieler fasziniert, es war Florian Köhler in der Rolle des Isaac. Kurzerhand sprach Zaid den Schauspieler bei nächster Gelegenheit an, was Florian Köhler damals imponierte, mittlerweile sind die beiden Freunde. Florian Köhlers Lebensgefährtin, die Theaterpädagogin Viola Novak, hat Zaid davon unabhängig bei einem Workshop kennengelernt. Sie unterstützt ihn nun privat bei der Erarbeitung und Weiterentwicklung seines Solo-Stückes. „Die Kinder sind sehr wohlerzogen und passen manchmal auf mich auf“, kommentiert Zaid seine gelegentlichen Babysitter-Dienste bei der jungen Familie mit einem Zwinkern. „Zaid hat sich von der privaten Betroffenheits-Perspektive des Opfers emanzipiert, er nimmt seine persönliche Geschichte als Ausgangspunkt und fiktionalisiert die Thematik mittels Humor und Groteske“, beschreibt Viola Novak die Arbeit an Zaids Performance „Käse. Angst vor Migration. Oder: Ich liebe mich, wenn ich nackt bin“. Käse ist für den Vegetarier und Käseliebhaber Zaid übrigens alles andere als ein Käse im sprichwörtlichen Sinn, sondern Zaids ganz persönliche Metapher für ein Ideal und Lebensgefühl. Das Solostück feiert am 20. Februar Premiere im Theater im Bahnhof. Danach ist Zaid für Aufführungen österreichweit buchbar. Die Performance ist so konzipiert, dass sie auch ohne Ausstattung, Technik und Bühne funktioniert und daher praktisch überall jederzeit stattfinden kann. „Auch auf der Straße, im Schulhof oder im Wohnzimmer“, wie Zaid versichert, der sich ab sofort über Anfragen freut!
Heute lebt Zaid in einer Studenten-WG im Univiertel. Er hat es trotz zahlreicher Hürden geschafft, im laufenden Asylverfahren einen Job als selbstständiger Fahrrad-Essenszusteller zu ergattern, kann auf diverse Theaterprojekte und Kunstperformances zurückschauen, bei denen er mitgewirkt hat, weitere Engagements sind in Aussicht. Wenn man ihn mit seinem Fahrrad durch die Stadt fahren sieht, einen sein Blick kurz streift, wirkt er wie einer der vielen, relativ sorglosen Studenten. Er ist selbstverständlicher Teil des städtischen Szenarios, das nicht dasselbe wäre, wäre er nicht Teil davon. Nichts weist auf seine bewegte Geschichte hin und darauf, dass er hier vor wenigen Jahren ganz bei null angefangen hat. 2016 ist er noch zu Weihnachten alleine auf den Schlossberg hochgelaufen, hat die erleuchtete Stadt von oben betrachtet, wie es Touristen und Verliebte tun. Mittlerweile ist für ihn die Weihnachtsfeier zusammen mit seinen österreichischen Freund_innen schon fast zur Tradition geworden. „Europa war nie Teil meines Lebensplans“, sinniert Zaid fast ungläubig. Er hat sich nie erträumen lassen, einmal in der zweitgrößten Stadt eines kleinen Landes namens Österreich zu leben und in einer fremden Sprache Theater zu spielen. Die Schlüsselszenen auf der Lebensbühne finden sich eben häufig nicht im Skript – auch von einem Happy End steht in Zaids Geschichte noch nichts.