Fotos: Peter Troissler
Glaubst du noch ans Grieskind?
Der Grazer Bezirk Gries weiß noch nicht, ob er sozialer Brennpunkt bleiben oder doch nach den Sternen der Gentrifizierung greifen soll. Wie geht es einem Kind, das hier aufwächst und in eine der verrufenen Schulen des Stadtteils geht? Peter K. Wagner hat ein Grieskind über ein Jahr begleitet. Hier erzählt er die Geschichte eines besonderen Jungen.
Irgendwann steht Nour vor unserer Tür. Er war mir schon öfter in unserer Gasse aufgefallen, weil es keine Gasse ist, auf der Kinder Fußballspielen sollten. Als er nun neben mir steht, sage ich mit besserwisserischem Ton zu ihm: „Das ist nicht der beste Ort zum Fußballspielen.“ Er schaut mich mit großen Augen an und grinst, antwortet nicht wirklich auf meinen Ratschlag, sondern kommt zu uns ins Büro. Er setzt sich auf einen Stuhl und macht mir klar: Er spiele nicht nur gerne Fußball, sondern sei auch richtig gut. Eigentlich so gut, dass es für ihn nur ein Zukunftsszenario geben kann: Er wird Cristiano Ronaldo nachfolgen, seinem großen Vorbild. Ich mag seine offene, manchmal freche Art. Und es wird nicht sein letzter Besuch bleiben.
Über Wochen hindurch vergeht kaum ein Tag, an dem Nour nicht bei uns im Büro vorbeischaut. Nour wird für meine drei Kolleginnen und mich ein charmanter Ausbruch aus dem Arbeitsalltag. Irgendwann erfahren wir, dass Nour vor zwei Jahren mit seiner Mutter und seinem Vater aus dem Irak nach Österreich geflüchtet ist. Manchmal kommt ihn seine Mutter bei uns abholen. Seine Mama ist eine schüchterne, freundliche Frau mit Kopftuch, der wir mehrmals zu verstehen geben, dass wir uns über die Besuche ihres Sohnes freuen und ihm rechtzeitig sagen, wenn er uns vom Arbeiten abhält. Er spricht mit uns allen gerne, aber vor allem die einende Leidenschaft für Fußball führt dazu, dass Nour meist eine Frage stellt, wenn er bei uns anklopft: „Ist Peter da?“
Dass Nour an diesem Ort überhaupt nach mir fragen kann, ist ein zeitgenössisches Phänomen. Auch Graz ist einer dieser urbanen Räume, in denen sich in Vierteln mit hohem Anteil von Migration und sozialen Problemen zunächst junge Unternehmen oder Kreative ansiedeln. Bis die Gentrifizierung folgt und das Bürgertum einzieht. Hätte ich das linke Murufer und die Nobelbezirke meiner Kindheit nicht aus beruflicher Selbstverwirklichung heraus für einen Platz in einem Kreativbüro verlassen, wäre ich Nour nie begegnet. Und hätte eine der wertvollsten Horizonterweiterungen meines Lebens verpasst. Denn je mehr ich Nour und seinen Alltag kennenlerne, desto klarer wird mein Einblick in eine Realität, die mir ursprünglich nur in Form von Vorurteilen bekannt war. Es ist ein nahezu verächtlicher Blick von oben auf Menschen, denen an Stammtischen im besten Fall Integration und Inklusion gewünscht wird. Deren Integration allerdings schneller stattfindet als das bürgerliche, linke Murufer denkt.
Nour ist nur eines von vielen in Gries lebenden Kindern, die in einer Umgebung von Ethnoshops und -restaurants aufwachsen und keine Verwandtschaft haben oder Einrichtungen kennen, die zu einem Aufbruch in andere Teile der Stadt führen. In den besten Fällen können Kinder wie er, deren Eltern hart darum kämpfen, den sozialen Aufstieg zu schaffen, tatsächlich Kind sein. In den schlechtesten Fällen nehmen die Kinder die Rolle eines Erwachsenen ein. Aufgrund der Sprachbarrieren, die ihren Eltern viel mehr zu schaffen machen als ihnen, die zur Schule gehen.
Nour ist elf Jahre alt, als wir uns ein paar Wochen kennen und ich beschließe, einen Fußballverein für ihn zu finden. Ich weiß, dass dafür die Unterschrift der Eltern nötig ist, und frage ihn, ob das nicht seine Eltern erledigen wollen. Ich merke, dass sie es gerne würden. Aber nicht können. Ich finde im Grazer Sportclub (kurz: GSC) einen Verein für Nour, der sogar auf der bürgerlichen Murseite zuhause ist. Als ich ihn durch den Anmeldungsprozess begleite, hinterfrage ich die österreichische Bürokratie, die nahezu verhindert, dass ein Kind Fußball spielen kann. Dabei hat Sport so große sozialintegrative Kraft.
Nours Mutter unterschreibt bereitwillig die Dokumente, die ich ihm zur Anmeldung beim Fußballverband nach Hause bringe. Weil er den Sportplatz des Vereins nicht kennt und seine Mutter ihm den Weg nicht zeigen kann, radeln wir ein paar Tage späer gemeinsam über den Augartensteg. Während ich ihm zuschaue, werde ich von seinem Trainer gefragt, ob ich nicht ein Team übernehmen möchte. „Ich habe leider keine Trainerausbildung“, sage ich. „Egal“, sagt der Trainer. „Ich merke, du hast es verstanden, worum’s geht.“ Der GSC ist ein Sammelbecken verschiedener Nationen. Beim Training trägt nur ein Spieler trägt ein GSC-Trikot mit seinem Namen am Rücken, er hat offensichtlich einen besseren sozialen Background als Nour. „Das muss man leider selbst zahlen“, erzählt der Trainer. Auch das Spielen selbst kostet 60 Euro pro Halbjahr. Wie soll sich Nour das leisten?, frage ich mich zunächst selbst. Und kurze Zeit später einen Mann, der eine Antwort haben müsste.
Für ein steirisches Wirtschafts- und Politikmagazin erhalte ich zufälligerweise nur kurz nach dem Ausflug mit Nour den Auftrag, mit dem Grazer Stadtrat Kurt Hohensinner ein Interview zu führen. Eine Stunde rede ich mit dem Politiker über seine Agenden wie Sport, Integration und Bildung. Die Hälfte der Zeit nur über Nour. Ich bekomme den Eindruck, dass Hohensinner weiß, was es bedeutet, an einem der sozialen Brennpunkte in Gries aufzuwachsen. Von seinen Antworten bin ich trotzdem eher enttäuscht. Ich frage ihn etwa, warum Klassen, in denen nur Kinder sitzen, deren Eltern nicht Deutsch als Muttersprache haben, nicht aufgelöst werden. Er antwortet mir unter anderem, dass er schwer sei, Eltern von Mariatroster Kindern zu erklären, nach Gries zu pendeln. Ich verstehe das. Und doch ist mir auch sein redliches Angebot, mit Nour zu ihm zu kommen, zu wenig. Nour ist nur einer von vielen, denk ich mir.
Bianca Schöngrundner kennt viele Kinder mit Herausforderungen wie Nour. Sie ist seine Klassenvorständin in der 2b der Neuen Mittelschule Albert Schweitzer am Grieskai. „Es geht an unserer Schule viel um Erziehung“, sagt sie. Entscheidend sei auch, wie sehr die Eltern ihre Kinder fördern. „Zu uns kommen oft Kinder, die erst auf unseren Unterricht vorbereitet werden müssen, weil sie in keiner Schule waren oder zunächst Deutsch lernen müssen.“ Eine Integrationslehrerin steht ihr als Unterstützung ebenso zur Verfügung wie zwei Schulsozialarbeiter_innen. Nour habe eine Lernschwäche und daher sonderpädagogischen Förderbedarf. Dadurch hat er einen differenzierten Lehrplan. Schöngrundner beschreibt Nour als „unglaublich lieben Buben, der sehr hilfsbereit und lernwillig ist, mit Eltern, denen die Schule wichtig ist. „Nur wenn er geärgert wird oder es zu Streit kommt, ist zu merken, dass er in seiner Heimat etwas Tragisches erlebt hat.“ Er habe eine niedrige Toleranzschwelle. „Wobei auch das besser geworden ist. Ich vermute, dass könnte am Fußball liegen.“
Nour spielt nun seit über einem Jahr für den GSC. Mehrmals hatte er mich gefragt, ob ich ihm nicht einmal bei einem Spiel zuschauen möchte. Dass ich heute da bin, liegt leider hauptsächlich daran, dass ich über ihn diese Geschichte schreiben will. Er willigt sofort ein. Als ich ihm sage, dass seine Mama auch einverstanden sein muss, meint er: „Mama sagt, ich darf alles alleine entscheiden.“
Bald steht nicht Nour vor meiner Tür wie im Frühsommer 2018, sondern ich wieder einmal vor seiner. Ich will seine Mutter um Erlaubnis für diesen Artikel bitten. Sie lächelt freundlich, unterschreibt die Einverständniserklärung, will aber nicht interviewt werden. Dann erzählt sie mir doch etwas. Der Asylantrag ihrer Familie wurde in erster Instanz abgewiesen. Ich stehe vor dem Fenster ihrer Erdgeschosswohnung, als ich das erfahre. Hinter mir sitzt mein zweijähriger Sohn im Kinderwagen und quengelt. „Ich möchte ihm etwas schenken“, sagt Nour plötzlich. Er geht nach hinten und kehrt mit zwei kleinen Stofftieren in der Hand zurück. Diesmal schaut er nicht mich, sondern meinen Sohn mit großen Augen an und grinst. „Für dich“, sagt er. Weihnachten ist nah. Dieser Nour, denk ich mir, ein zwölfjähriges Grieskind als Christkind. An so ein Kind muss mensch doch eigentlich glauben. Oder?