Text: Nadine Mousa & Claudio Niggenkemper
Foto: Michael Goldgruber

Digital verzettelt

Barrierefreiheit ist essentiell für ca. 10% der Bevölkerung, notwendig für ca. 40% und komfortabel für 100%, so beschreibt es die WKO. Barrierefreiheit bringt also allen mehr Komfort. Doch warum geht der Ausbau so schleppend voran?

„Im Kindsfall unserer Stadtgemeinde ist eine hierorts wohnhafte, noch unbeschulte Minderjährige aktenkundig, welche durch ihre unübliche Kopfbekleidung gewohnheitsrechtlich Rotkäppchen genannt zu werden pflegt.“ Ein Märchen mutiert dank Behördendeutsch zur Fremdsprache. Doch was, wenn der Inhalt komplexer ist? Gar behördlich relevant? Wie lässt sich Sprache barrierefrei gestalten?

In einer zunehmend digitalisierten Welt ist der Zugang zum Internet selbstverständlich und entscheidend. Doch für Millionen von Menschen mit Behinderungen kann der Zugang zu digitalen Inhalten eine Herausforderung darstellen. Barrierefreiheit im Netz spielt eine entscheidende Rolle, um sicherzustellen, dass alle das Internet in vollem Umfang nutzen können.

Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2008 aus Deutschland ist für 86% Behördensprache schwer verständlich, gleichzeitig wird der Webpräsenz der Stadt Graz eine hohe Barrierefreiheit attestiert. Barrierefreiheit und Niederschwelligkeit gehen dabei Hand in Hand. Barrierefreiheit bedeutet nicht nur, dass Websites und Online-Plattformen für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind, sondern auch, dass sie für alle Benutzer:innen leicht navigierbar und inhaltlich verständlich sind.

Klickt man sich anfangs (noch) fröhlich durch die Webpräsenzen der Stadt Graz oder des Landes Steiermark, kommen einem die sprichwörtlichen Barrieren schneller entgegen, als erhofft. Erhöhte Transparenzen, Farbanpassungen oder Vorlesefunktionen gibt es, verständlich sind die Informationen und Anweisungen jedoch selten – und das trotz der so genannten „EAA“ und „WCAG 2.0“. Der European Accessibility Act (EAA) ist ein Entwurf der EU-Kommission aus dem Jahr 2015, der auf eine künftige EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit abzielt. Diese Richtlinie strebt an, eine Vielzahl von Dienstleistungen und Produkten innerhalb der EU barrierefrei zu machen. Die Einführung des EAA würde zu einer Vereinheitlichung der Barrierefreiheitsstandards führen und nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch ältere und vorübergehend eingeschränkte Personen profitieren lassen. Ab 2025 soll das Gesetz in Österreich in Kraft treten.

Die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) sind ein zentrales internationales Regelwerk für digitale Barrierefreiheit. Sie geben vier Prinzipien und 13 Richtlinien für die Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen ohne Barrieren für Menschen mit Einschränkungen vor. Die Erfüllung der Anzahl der Erfolgskriterien entscheidet darüber, welche der drei WCAG-Konformitätsstufen (A, AA oder AAA) die jeweilige Website erreicht. Sobald man jedoch auf die über 20.000 PDF-Dateien der hiesigen behördlichen Webpräsenzen trifft, scheinen alle Vorgaben und Leitlinien nichtig.

Das Land Steiermark arbeitet daran, Richtlinien und Standards für die digitale Barrierefreiheit umzusetzen und zu verbessern. Es betont auch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessengruppen, um die Bedürfnisse der Nutzer:innen besser zu verstehen und entsprechende Lösungen zu entwickeln. Brigitte Rosenberg, Amt der Steiermärkischen Landesregierung: „Das Land Steiermark hat große Summen investiert, um die Erst- und Zweit-Ebenen-Inhalte des Verwaltungsservers als Haupt-Server des Landes auch auf Englisch zugänglich zu machen. Da es sich bei den meisten Hinweistexten um Auszüge aus Gesetzestexten handelt, können diese nicht ohne Bedeutungsverlust vereinfacht dargestellt werden.“ Bei der Terminvereinbarung wird seit diesem Jahr auf ein barrierefreies Buchungssystem gesetzt: „Die Redakteur:innen der einzelnen Dienststellen sind natürlich angehalten, dieses auch zu verwenden, sofern es sich tatsächlich um einen Termin mit Anfangs- und Enddatum handelt. Einzelne, individuelle Terminvereinbarungen erfolgen, wie überall üblich, telefonisch oder per Mail.“ Immer noch kompliziert.

Genau an dieser Stelle setzt capito an. Seit der Gründung im Jahr 2000 spezialisiert sich das Unternehmen auf leicht verständliche Sprache und Barrierefreiheit. Dafür entwickelt capito verschiedene digitale Lösungen, die auch mit Hilfe von künstlicher Intelligenz Texte in eine verständlichere Form umwandeln. Die Geschäftsführerin und Co-Gründerin erklärt, woran das liegt: „Das hat mit dem Selbstverständnis der Behörden und Institutionen zu tun. Sie informieren nicht auf ihren Websites, sondern stellen sich dar. Diese Darstellung erfolgt in ihrer eigenen Sprache und aus ihrem Verständnis heraus, da sie eine Vereinfachung nicht als vereinbar mit der juristischen Komponente betrachten. Im Marketingbereich funktioniert es noch recht gut, aber wenn es um die Absicherung seitens der Stadt, des Landes oder der Behörde geht, nicht.“

Die Stadt hingegen betont die Anstrengung, trotz dezentral organisierter Strukturen einheitlich hohe Qualitätsstandards zu erreichen. Durch gezielte Maßnahmen ist es ihr gelungen, den Barrierefreiheitsscore der Website „bereits um 7 Prozentpunkte“ zu erhöhen – ein fortlaufender Prozess also. Das Ziel: digitale Dienste möglichst breit zugänglich zu machen. Wie? Unter anderem durch das Programm „Graz verständlich“ und den Podcast „Grazgeflüster“. Maximilian Mazelle, Kommunikations-Abteilungsleiter: „Um möglichst viele Menschen zu erreichen, arbeitet die Stadt auch mit Reichweitenpartner:innen zusammen. Ziel ist es, möglichst alle Menschen in Graz über verschiedenste Kanäle wie z.B. Hörfunk, Außenwerbung, etc. barrierefrei anzusprechen.“

Schaut man gen Norden, so sind die baltischen und skandinavischen Länder fortschrittlich unterwegs. Der Bürgermeister von Lappeenranta (Finnland) sagt: „Wir haben einen stärkeren Fokus auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und investieren mehr in Schulungen, Ressourcen und Technologie, um sicherzustellen, dass digitale Dienste für alle zugänglich sind.“ Woran das liegt? An einer langen Tradition der Gleichberechtigung und Inklusion, Regierungsinitiativen und vielen weiteren Bausteinen, die bei uns noch fehlerhaft scheinen.

Die Hälfte aller Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz hat Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen komplexer Informationen. Ein Großteil der von Behörden und Unternehmen veröffentlichten Informationen ist für sie nicht verständlich. „Als Mensch mit Behinderung ist es furchtbar, tausende Formulare auszufüllen, um Pflegegeld und andere (finanzielle) Unterstützung zu erhalten. Ohne Assistenz ist das nicht machbar“, erklärt Melanie Wimmer, Expertin für Barrierefreiheit bei capito. Als Person, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist und eine Lernschwierigkeit hat, weiß sie genau, worauf es bei der Barrierefreiheit in Textform ankommt: „Man sollte auf lange und schwierige Wörter verzichten und die Kerninformationen klar und verständlich vermitteln“.

Dass das möglich ist, zeigen Projekte, wie die KI-basierten Übersetzungstools von capito, die auf Basis von menschlichen Prüfgruppen oder von kostenloser Technologie trainiert wurden. Diese geben den Nutzer:innen letztlich mehr Freiheit, sich selbstbestimmt digital zu entfalten, und überbrücken die zähen Entwicklungsprozesse alteingesessener Behördenstagnation. Damit sich bald niemand mehr verzettelt – weder analog, noch digital.

CLAUDIO NIGGENKEMPER und NADINE MOUSA wünschen sich eine Welt, in der alle Menschen sagen können: „Ich habe verstanden!“

Transparenz-Hinweis: Dieser Bericht entstand im Rahmen eines Workshops des forum journalismus und medien wien (fjum). Teil davon war eine Reise nach Brüssel, die vom Europäischen Ausschuss der Regionen finanziert wurde.