Fotos: Thomas Raggam
Die letzten Greißler von Graz
Die Inflation trifft alle. Aber manche mehr als andere. Während die vier großen Supermarktriesen Gewinne machen, haben die Menschen in kleinen Geschäften zu kämpfen – auf beiden Seiten der Theke. Zu Besuch bei vier Grazer Nahversorgern.
„Saachi Bani Meethi Amrit Dhaaaaar … Piep-Piep-Piep … Saachi Bani Meethi … Piep … “, ist im Hintergrund zu hören. Die Luft riecht nach Curry, Kurkuma und Parfüm. Von den Wänden schmunzeln Gött:innen herab. „Twenty Euros Fourty, please!“, sagt der Mann mit dem Barcodescanner durch die Plexiglasscheibe. Die Kundin leert ein Plastiksackerl mit Münzen auf den Tresen und beginnt zu zählen. Bei 20,40 Euro angelangt, nimmt sie einen großen Sack Wildreis und einen tiefgefrorenen Fisch in Frischhaltefolie entgegen. „Have a nice day!“, sagt Krishna und neigt sich Richtung Wandkalender seines Namensvetters, um seinem Chef Platz zu machen.
„Wir haben Produkte aus der ganzen Welt“, sagt Amit Farmah. Er ist Inhaber des 2003 von seinem Vater gegründeten „Farmah’s Indien Supermarkt“ in der Grazer Annenstraße. Wie geht’s ihm mit der Inflation? „Die Lebensmitteln aus Asien sind voriges Jahr bis August besonders angestiegen. Dann haben sie sich wieder etwas eingependelt. Dafür sind die südamerikanischen Produkte jetzt teurer geworden. Zum Teil auch die indischen. Planen ist so gut wie unmöglich.“ Die Geldentwertung ist neben der Corona-Pandemie eine der größten Herausforderungen in seinem Geschäftsleben. Da Farmah hauptsächlich importierte Produkte mit langen Transportwegen verkauft, spürt er die Preisschwankungen aufgrund der gestiegenen Energiekosten besonders. Sinken die Preise, bestellt er mehr und umgekehrt. Bei Lebensmitteln mit Ablaufdatum kein leichtes Unterfangen.
Gleicher Lohn, aber alles teurer
„Saachi Bani Meethi … “, ist noch immer zu hören. Die sanfte Stimme und das indische Harmonium legen eine leicht meditative Note unter das geschäftige Treiben bei Farmah’s. Fast hätte die Handtasche einer jungen Frau das Regal mit Hennahaarfarben leer geräumt. Wir stehen grundsätzlich im Weg. „Merken Sie, dass die Preise durch die Inflation höher geworden sind?“ Statt zu antworten, legt der Kunde seine Yamswurzel ab, geht zur Treppe, drei Stufen hoch, reckt die Arme zur Decke und lacht. „Höher?“ – „Jaaa, so hoch. Überall.“ Joseph erzählt von seinem Auto, das er nicht aus der Werkstatt abholen kann, weil ihn die Stoßstange 700 Euro kosten würde – Geld, das er nicht hat. Einsparen? Unmöglich. Sein Lohn ist gleich geblieben, während alles andere teurer geworden ist. „Ich muss essen.“ Joseph lacht wieder. „Ich habe keinen Luxus mehr, aber Essen ist wichtig.“ Manchmal kommt er hierher und kann nicht bezahlen. „Dann muss er meine Einkäufe anschreiben.“ Er nickt Richtung Chef. Selbst wer keinen Plan von Wirtschaftsstatistik hat, kann beim Blick auf die Grafik der historischen Inflation eines kaum übersehen: Während sich die rote Linie seit 1970 gemächlich nach oben schlängelt, macht sie 2021 einen krassen Sprung. Mit 8,55 Prozent im Jahr 2022 und 7,89 Prozent im Jahr 2023 liegt Österreich über dem europäischen Durchschnitt.
„Khodahafez!“ Ein paar Meter weiter westlich auf der Annenstraße verabschiedet sich eine Kundin auf Farsi, als sie den Balkh Market verlässt. Das Kassenband scheint nie in Betrieb zu sein, dafür ist es voll beladen mit Nüssen, frischem Obst und verschiedensten Tierteilen. „Für uns ist’s durch die Inflation nicht schwieriger. Es ist derselbe Sch**ß“, sagt der Chef, während er zackig die Kassa bedient. „Aber für die Menschen, die einkaufen, ist es schlimm.“ Als Beispiel nennt er Red Bull. Hat die Dose früher nur 1,50 Euro gekostet, sind es jetzt 1,60 Euro. Die Preise seien gestiegen, während das Einkommen für viele seiner Kund:innen gleich geblieben sei. Payman deutet auf eine Frau, die gerade eine Großpackung Butterkekse in ihren Händen mustert. „Siehst du die? Sie wird sich sicher gleich beschweren, dass die Kekse so teuer geworden sind.“ In diesem Moment ruft ihm die Kundin etwas zu. Die Beschwerde dürfte freundschaftlicher Natur sein. „Tamam tamam“, beruhigt der Chef sie. Das heißt so viel wie „Okay, okay“. Die beiden kichern.
Die Preise sind 2022 um 8,6 Prozent gestiegen, die Löhne nur um 4,4 Prozent. So beziffert Helene Schuberth, Chefökonomin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, das Missverhältnis. Im Jahr 2023 soll dieser Reallohnverlust zwar schon deutlich zurückgegangen sein, dennoch kämpfen viele mit ihrer finanziellen Situation – vor allem vulnerable Gruppen wie Arbeitslose, Alleinerziehende und armutsgefährdete Erwerbstätige. Dies verdeutlicht auch die aktuelle Studie der Armutskonferenz: „Während die einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte im Durchschnitt rund 2,5 Prozent ihres Einkommens für die Deckung der durch die aktuelle Teuerung verursachten Kosten aufwenden müssen, liegt dieser Anteil bei den einkommensschwächsten 20 Prozent der Haushalte bei 6 Prozent (Maidorn/Reiss 2023: 111). Hinzu kommt, dass einkommensschwache Haushalte stärker von der Corona-Pandemie vorbelastet sind und oft keine Ersparnisse auf der Kante haben, um spontane Mehrkosten abzudecken. Die Folgen: psychosoziale Belastungen, die es den Betroffenen erschweren, aus der Armutsspirale auszubrechen, und eine Wohlstandsschere, die sich immer weiter öffnet.
Vertrauensbeweis Anschreiben
Zurück in den Bezirk Gries. Unweit von Arbeiterstrich und Striplokalen prangt in weißen Lettern auf blauem Grund „G.O.D.“ Der Afroshop in der Prankergasse gehört einem ehemaligen Megaphon-Verkäufer. Haruna Adamu erinnert sich an die Zeit, als er tagsüber am Berliner Ring die Straßenzeitung verkaufte und nachts im Schlachthof arbeitete. Seit 2007 steht er in dem Eckhäuschen hinter der Kassa. Wie er die Inflation erlebt? „Es ist eine schwierige Situation, aber wir können sie nicht ändern“, sagt er. „Der Preis von Yams geht jeden Monat rauf und runter. Ich bestelle sie in Holland. Aber angebaut werden sie in Afrika. Der lange Transport ist sehr teuer.“ Die meisten Produkte von Haruna werden importiert. Ein Großteil stammt aus Afrika, so wie seine Hauptkundschaft. „Viele Afrikaner:innen haben keine gute finanzielle Situation. Sie versuchen, es irgendwie hinzukriegen, aber es ist hart“, sagt Haruna. „Wenn Menschen neu im Land ankommen, packe ich ihnen etwas zusammen, womit sie ihr Leben starten können.“ Heute ist es ruhig im Shop. Kein Piepen des Barcodescanners, keine Musik, keine Kund:innen. Nur Harunas Tochter schlendert ab und zu durch die Reihen von Trockenfisch, Kokosbutter und Reisetaschen. Geht sich ein Einkauf einmal nicht aus, kann man auch bei ihm anschreiben lassen, fügt Haruna hinzu. „Das braucht viel Vertrauen.“
Das Anschreiben kennt man aus der österreichischen Tradition der Greißler – oder auch nicht. Denn durch die Konkurrenz der großen Supermärkte gerät die „Greißlerei“ immer mehr in Vergessenheit. Mehr als 200 Nahversorger:innen mussten laut Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) zwischen 2019 und 2022 schließen, während die großen Player ihre Filialnetze ausbauen. Spar, Rewe, Hofer und Lidl teilen sich bereits mehr als 90 Prozent des Marktanteils und bieten Einkaufsmöglichkeiten an fast jeder Ecke. Auf je 100.000 Einwohner:innen kommen 50 Supermärkte. Doch diese Dichte hat ihren Preis. Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo nur halb so viele Filialen auf 100.000 Menschen kommen, treibt die hohe Zahl die Lebensmittelpreise in die Höhe.
Fast zu Tode gestreicheltes Hühnerfleisch
Wir begeben uns aufs linke Murufer. Letzte Station: Kornwaage. Es riecht nach Mehl, Holz und ein bisschen nach Wellness. Aus dem Hinterzimmer kommt eine Frau mit blauer Schürze und breitem Lächeln. Sie ist die Verkörperung von „Herzlich willkommen“ schlechthin. „Zu uns kommen die unterschiedlichsten Leute“, beginnt Barbara zu erzählen. „Student:innen, 80+, Hipster, schicke Leute vom Rosenberg, aber auch Menschen, die bei uns anschreiben lassen, weil es sich nicht mit dem Geld ausgeht. Das macht die Arbeit sehr spannend.“ Was den Bioladen unter anderem von Großsupermärkten unterscheidet? „Bei uns wird getratscht.“ Barbara lacht. Als sie vor zwölf Jahren hier als Verkäuferin anfing, hatte sie nicht vor, so lange zu bleiben. Irgendwie ist sie hängengeblieben und heute Teamleiterin ihres kleinen „Schiffes“. Dieses musste schon durch so manchen Sturm manövriert werden, nicht zuletzt durch die Pandemie. Inzwischen ist der Applaus für die Systemerhalterinnen längst verklungen. „Jetzt können wieder alle auf Urlaub fliegen, und unsere Preise sind für viele wieder zu hoch“, sagt Barbara. Auf die Frage, ob sich die Kund:innen über die inflationsbedingten Preiserhöhungen beschweren würden, lacht sie. „Die beschweren sich sowieso. Bei uns kann man über alles jammern, alles retourbringen. Das gehört halt dazu.“ Die Beschwerden über Preiserhöhungen hätten aber abgenommen, weil die Kund:innen irgendwann gemerkt haben, dass es überall gleich ist. Außerdem scheint die Erhöhung bei der Kornwaage nicht so gravierend zu sein, weil viele Produkte regional sind. „Das Hühnerfleisch von der Frau Hofmeister, die ihre Hendln fast zu Tode streichelt, war auch früher teuer.“ Dass der Umsatz in den letzten zwei Jahren zurückgegangen ist, merkt Barbara dennoch deutlich.
Mieten, heizen, Auto fahren, Friseurbesuch oder ein Bier trinken gehen. Kaum ein Lebensbereich bleibt von der Inflation verschont. Gesprächsthema Nummer eins sind aber nach wie vor die Lebensmittelpreise. Das mag laut der Umfrage der Armutskonferenz zum einen daran liegen, dass wir beim Blick auf die Preisschilder regelmäßig daran erinnert werden. Zum anderen gibt es im zweiten grundlegenden Bereich, dem Wohnen, kaum Spielraum zum Einsparen. Das hat das Kaufverhalten der Menschen verändert. Im Rahmen einer Haushaltsbefragung des WIFO gaben knapp 65 Prozent der Befragten an, beim Einkaufen vermehrt auf günstigere Alternativen, Aktionspreise oder Rabatte zurückzugreifen. Über 45 Prozent gaben an, vermehrt bei Discountern einzukaufen.
Die Kette der Solidarität
Auf Martin trifft das nicht zu. Er ist seit 15 Jahren Kunde bei der Kornwaage. Einsparen bei der Ernährung kommt für ihn erst weiter hinten dran. „Bei den hochpreisigen Produkten überlege ich mir jetzt schon zweimal, ob wir das wirklich brauchen“, sagt er. „Aber weniger Bio kaufe ich deswegen trotzdem nicht ein.“ Neben den Zotter-Schokoladen steht ein junges Paar. Ihr geflochtener Einkaufskorb ist randvoll mit Obst und Gemüse in zerknitterten Papiersackerl. „Die bringen wir von zuhause mit, um sie wiederzuverwenden“, erklären sie. Bioladen-Profis also. Seit sieben Jahren kaufen Aaron und Rosie regelmäßig hier ein, und zwar alles vom Putzmittel bis zur Paprika. „Wir haben uns das als Priorität gesetzt und nehmen lieber woanders Einschnitte in Kauf“, sagt Rosie. „Neben dem gesundheitlichen Aspekt wollen wir die Arbeit der Erzeuger:innen, Transporteure und Verkäufer:innen wertschätzen. Uns ist wichtig, dass alle davon leben können.“ Das hat die beiden auch motiviert, angesichts der finanziellen Herausforderungen der Kornwage einen Anteil der Genossenschaft zu finanzieren. „Wenn ich hier einkaufen gehe, können die hier arbeiten und umgekehrt. So hält man diese kleine Kette am Laufen.“
Und die Kette endet nicht am Ausgang. „Irina gehört auch fix dazu“, sagt Barbara mit einem Wink nach draußen. Eingemummelt in einen dicken, schwarzen Anorak, eine schwarze Haube und einen schwarzen Schal, sitzt dort die Megaphon-Verkäuferin. „Hier sind gute Leute mit gutem Herz“, schwärmt Irina und strahlt über die dunklen Textilien hinweg. Oft arbeitet sie neun Stunden am Tag. „Dann lassen sie mich zwischendurch aufwärmen, geben mir Tee. Fünf Tassen – und für Essen muss ich nix zahlen“, sagt sie.
Die Kette der Solidarität – sie lässt sich bis zur Vorfahrin der Kornwaage zurückverfolgen. 1979 eröffnete Ushij Matzer gemeinsam mit ihrem Mann Rupert in der Sparbersbachgasse den ersten Bioladen Österreichs. Mittlerweile ist sie vielen eher als „Holzrebellin“ bekannt – ein Titel, der ihr aufgrund der Verwendung von Kochlöffeln und Schneidebrettern aus Holz entgegen (fragwürdiger) Hygienevorschriften verliehen wurde. „Mein Mann und ich sind Mitglieder der Kornwaage-Genossenschaft. Wir arbeiten auch in unserer Pension umsonst weiter“, sagt sie. „Wenn man weiß, wofür man kämpft, tut man’s.“ Ushij lacht. Um Profit ging es bei den Bioläden nie, die Preise künstlich in die Höhe zu treiben, kam und kommt nicht in Frage. Vielmehr wollte Ushij ein Gegenbeispiel setzen. Als Studentin der Wirtschaftspolitik ahnte sie bereits lange, dass unser Wirtschaftssystem irgendwann crashen würde. „Schon 1979 habe ich mir ausgerechnet, was in der Landwirtschaft passiert, wenn Russland die Gaspreise erhöht“, erinnert sie sich. Jetzt, da viele ihrer Befürchtungen eingetroffen sind, zeigt sich, wie wichtig ihre Vor- und Zusammenarbeit war. „Ohne die Solidarität unserer Bäuerinnen und Bauern und das unglaubliche Engagement unserer Mitarbeiter:innen würde es längst nicht mehr gehen“, sagt Ushij. „Wir haben gedacht es könnte uns gelingen, die Menschen durch ein positives Angebot zum Umdenken zu bringen. Dann haben wir zuschauen können, wie der neoliberale Wirtschaftsgedanke davon Besitz ergriffen hat.“ Ushij lacht und seufzt zugleich. Das Rebellische hat sie auch im Ruhestand nicht verloren. Und sie ist fest überzeugt: „Der Mensch hat nur durch Kooperation überlebt.“
Wir beenden die Greißler-Tour beschenkt mit Krapfen, einer Packung Cumin und einem großen Fragezeichen im Kopf: Was haben G.O.D., Balkh Market, Farmah’s Indiensupermarkt und die Kornwaage gemeinsam? Die Antwort liegt nicht in der Herkunft oder im Sortiment. Sie verbirgt sich im Anschreibenlassen, in der genossenschaftlichen Kofinanzierung, im solidarischen Miteinander zwischen Bauern und Kornwaage, in Barbaras Tee und im Austausch zwischen den beiden Seiten der Ladentheke. „Ich kenne ja die ganzen Leute“, sagt Farmah vom Indien-Supermarkt in der Annenstraße. „Sie kommen jeden oder jeden zweiten Tag zum Einkaufen, nachdem sie zum Beispiel Megaphon verkauft haben. Wenn‘s draußen regnet und kalt ist oder 35 Grad hat, und sie komplett fertig hereinkommen, da schauen wir dann schon, dass wir beide leben können.“
Julia Reiter ist auf den Geschmack von Greißler als Alternative zu Großsupermärkten gekommen.