Text: Nadine Mousa
Fotos: Thomas Raggam

Das Annenviertel gibt es gar nicht

Maria Reiner (49) ist Inhaberin der Managerie in der Maria­hilferstraße und treibende Kraft im Verein Stadt­teilprojekt Annenviertel. Zum Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Initiative hat unsere Redakteurin die „heimliche Bürgermeisterin“ in „ihrem Grätzl“ besucht.

Schon hunderte Male bin ich mit dem Rad von der Schlossbergseite auf die andere Seite von Graz geradelt. Mit der Mur als natürliche Mauer wechsle ich regemäßig zwischen den zwei Hälften der Stadt. So auch heute. Ich bin am Weg zum Interview mit Maria – wir treffen uns bei ihrem Kiosk in Lend. Beim Wechsel von der linken auf die rechte Murseite hinterfrage ich zum ersten Mal mein Verständnis von hier und dort. Schaut man sich Graz auf einer Karte an, ist rechts und links, also Osten und Westen eindeutig abzulesen. Da wir (Wahl-)Murstädter:innen uns aber am Fluss orientieren, der nach Süden fließt, vertauschen wir das Konzept von rechts und links einfach. Grenzen und Mauern gibt es wohl wirklich nur im Kopf. Ich düse die Annenstraße entlang. 

Annenviertel-Chronik

Die Annenstraße hat eine reiche Geschichte, die eng mit der Entwicklung der Stadt verbunden ist. Ursprünglich als eine der Hauptverkehrsadern und bedeutenden Handelswege der Stadt angelegt, spielte sie eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen und kulturellen Leben von Graz. Während des Krieges wurde die rechte Seite der Mur zerbombt, zerstörte Gebäude in den 50ern wieder aufgebaut. Das Ergebnis: leistbarer Wohnraum für Jungfamilien. „Die sind rund um den Start der Aufwertung des Viertels ins Altersheim gekommen oder gestorben. Eine ganze Generation war plötzlich weg. Lend war schon immer ein gemischtes Viertel und damit nicht mega teuer. Die Leerstände haben sich die Leute genommen und daraus entstanden ist ein biotopisches Zusammenspiel“, sagt Maria. Wir sitzen mittlerweile vor ihrem bunten Laden, trinken Kaffee aus geblümten Tassen und unterhalten uns über die Geschichte von Graz. Aus den Regionen kommend haben Besucher:innen ihren Weg vom Bahnhof entlang der Annenstraße in die Stadt gefunden. Im Laufe der Jahrhunderte änderte sich jedoch das Stadtbild und die Bedeutung der Annenstraße. Mit dem Aufkommen neuer Verkehrswege und der Verlagerung des Handels in andere Stadtteile verlor die Annenstraße nach und nach ihre frühere Bedeutung als Hauptverkehrsader und Handelszentrum. Die Folge: Leerstand. Immobilien-Eigentümer:innen wollen nicht vermieten und lassen die Räumlichkeiten eher brachliegen, als sich mit ständig wechselnden Mieter:innen herumzuschlagen. „Es gibt auch nicht so viele Gastgärten wie in der Herrengasse“, das weiß Maria so genau, weil sie ab 2014 mit dem Annenviertel-Verein den großen Flohmarkt auf der Annenstraße weiter organisiert hat, der 2011 von Simone Reis und Gabi Medan iniitiert und bis 2013 von ihnen durchgeführt worden war. Nach Differenzen mit dem Straßenamt entstand aus der ersten Idee der „Hinterhofflohmarkt“. Im Herbst 2023 waren über 70 Standorte mit dabei, viele Nachbarschaftsprojekte fungieren als Drehscheiben. Das ist schön, aber „blöd für die Annenstraße. Da waren bis zu 12.000 Menschen an einem Tag unterwegs. Gleichzeitig die langsamste und ruhigste Großveranstaltung, die man sich vorstellen kann.“ 

Marias Mission

Während unseres Interviews wird Maria von zig Passant:innen gegrüßt. Ein „Hallo“ folgt rasch aufs nächste „Hey, Maria! Wie geht’s?“ Sie quittiert die Zurufe mit einem zufriedenen Lächeln und winkt fleißig nach rechts und links. Die Vermutung, Maria sei die heimliche Bürgermeisterin von Graz, stimme nicht: „Das würde ich nie sein wollen! Außerdem haben wir jetzt gute Bürgermeisterinnen!“ Dabei wäre Maria auch keine schlechte Wahl gewesen – bekannt wie ein bunter Hund ist sie jedenfalls. 

„Ich bin manchmal so denkfaul. Wie wäre es mit einem Glas Bio-Prosecco?“, fragt sie. Nachdem sie sich aus dem Wimmelbild von Kiosk mit drei Kristallgläsern Sekt löst (auch unser Fotograf wird „zwangsbeglückt“), fällt das Reden gleich wieder leichter. Und dem frischen Frühlingswind lässt es sich auch ein bisschen leichter trotzen. Hinter dem Großprojekt „Flohmarkt“ steht der Annenviertel-Verein mit dem „Büro zur Rettung zur Welt“. Gestartet in einer 6-monatigen Pilotphase 2019 im ehemaligen Gummi-Geschäft in der Annenstraße, war es die erste Basis des Vereins. „Wir brauchen einfach ein Büro im Zentrum des Annenviertels!“, und ich stimme ihr zu. Ich weiß allerdings nicht, wo genau das Viertel anfängt, geschweige denn aufhört. Und das, obwohl ich bald seit zehn Jahren in dieser Gegend lebe. Ich frage nach. Maria grinst. „Das Annenviertel ist ein Konstrukt. Das gibt’s ja nicht wirklich“, sagt sie. Das Zentrum bildet die Annenstraße, die Grenzen nach außen sind offen. In mancher Wahrnehmung wird aber die Straße selbst als Grenze wahrgenommen. Ich höre mich um: Die Annenstraße trenne Lend von Gries, hip von altmodisch, reich von arm, Gentrifizierung von Marginalisierung. Ein Grätzl der Gegensätze also? „Wichtig ist, dass sich die Leute durchmischen. Das Problem ist die gegenseitige Abgrenzung, wenn Communitys unter sich bleiben“, sagt Maria. 

Willkommen im „Annenversum“

Der Kunstverein rotor hat im Zuge des Projekts „Kunst des urbanen Handelns“ – ein Nachbarschaftsprojekt, das bis heute fortdauert – vor Jahren den Begriff „Annenviertel“ erfunden. Simone Reis ist treibende Kraft hinter der Entwicklung des Stadtteils. Als Mitarbeiterin in der Stadtbaudirektion ist sie für die Koordination der Neugestaltung der Annenstraße zuständig. Maria: „Sie hat eine sehr wertschätzende Herangehensweise dem gegenüber, was ihr mit dem Begriff Annenviertel anvertraut wurde. Sie lädt Leute zur Mitarbeit ein. Das prägt unser Viertel bis heute.“ Aus dieser Wertschätzung und Zusammenarbeit ist vor mittlerweile zehn Jahren der Verein „Stadtteilprojekt Annenviertel“ entstanden. Alia Bandhauer als Präsidentin wird von Vize Kerstin Gruber unterstützt. Maria ist als Kassiererin gelistet. Sie spricht vom „Annenversum“, das zur Gründungzeit 2014 mit viel Eigeninitiative und Ehrenamt aufgebaut wurde. Damals war das Annenviertel-Mobil als Büro ein Anfang. Maria beschreibt das Gefährt als „fahrenden Rollator umhüllt von Holz, aber richtig schön“. Ein rolling office der anderen Art. Eine kreative, aber auch anstrengende Notlösung, denn das Mobil wurde von Woche zu Woche an verschiedenen Orten des Annenviertels positioniert, um mit den Bewohner:innen in Kontakt zu treten. Über Nacht und am Wochenende brauchte aber auch dieses Büro seinen Rückzugsort, was gut funktioniert hat, bis es niemand mehr parken wollte. „Wir waren in der Apotheke, im Spar oder in einem Büro und haben Unterschlupf gesucht. Ich habe mir gedacht, es wäre schlau, zu den Menschen rauszugehen. Wir hatten immer Kuchen dabei“, erinnert Maria sich. „Grätzl ist da, wo man es sich schafft.“ Zeit für einen neuen Versuch: Leerstandnutzung. 

Stichwort Beteiligung

„Wir versuchen, die Leute zu aktivieren, selbst etwas anzubieten.“ Das Büro zur Rettung der Welt brauche es für den Kontakt zu den Leuten. Das Angebot: Jede Person, die etwas machen will, das für alle offen zugänglich und gratis ist, kann den Raum gratis nutzen. Damals wie heute. Bisher gegeben hat es: Sprachkurse, Roma-Cafés, Tauschbösen, Yoga uvm. „Es muss nur mit Weltrettung im Kleinen oder Großen zu tun haben“, sagt Maria. Erste Anfragen sind schon da. Auch geschlossene Veranstaltungen sind möglich – „dann fällt eine Gebühr an, die aber nicht hoch ist“. Das derzeitige Büro steht vorerst mal für ein Jahr offen. Wo? Genau neben dem ersten Büro-Versuch, in der Annenstraße 20. Ein Fest in den neuen Räumen ist in Planung, ein Jahrzehnt Annenviertel darf gefeiert werden. Besonderen Dank hat Maria für Bürgermeisterin Elke Kahr und Vize-Bürgermeisterin Judith Schwenter sowie die Bürgerspital-Stiftung übrig. Heuer bekommt der Verein erstmals 35.000 Euro Förderung – damit gehe sich die Basisinfrastruktur aus. „Projektbezogen suchen wir dann noch um Geld an. Das ist eine Heidenarbeit, die viel Idealismus braucht.“ 

Wir werden unterbrochen, zwei junge Männer bleiben fasziniert vor der Managerie stehen. „Kann man hier etwas kaufen?“, fragt einer, Maria steht auf und geht lächelnd auf ihn zu „Ja, natürlich!“

Nächster Halt: Volksgarten

„Jetzt muss ich bei null anfangen“, sagt Maria und macht es sich bequem. Aufgewachsen in der Nähe des Volksgartens, betreut sie auch viele Park-Projekte. „Ich bin dort schon als Kind herumgetigert mit meiner Schwester. Wir haben Mädchen-banden gegründet“, sagt sie. Heute ist der Volksgarten nicht die erste Anlaufstelle für Eltern mit ihren Kindern. Als sogenannte polizeiliche Schutzzone wird der Park wegen des Anstiegs an Anzeigen aufgrund von Drogenkriminalität und Suchtmittelkonsum im behördlichen Auge behalten. Über die Wirksamkeit solcher Beschlüsse kann man streiten. Stadtrat Robert Krotzer drückt es unmissverständlich aus: „‚Aus den Augen, aus dem Sinn‘ – das ist keine Lösung, sondern schlichtweg Verdrängung.“ Mit einem solchen Ansatz, Armut, Obdachlosigkeit oder Alkoholabhängigkeit einfach in die Unsichtbarkeit zu verbannen, bewege sich eine Stadt nicht nur weg von ihren humanitären Verpflichtungen, sondern betreibe auch lediglich oberflächliche Symptombekämpfung. Die eigentlichen gesellschaftlichen Herausforderungen würden dadurch keineswegs gelöst. Maria sieht das ähnlich: „Jedes Jahr finden die Menschen, es wäre am schlimmsten. Aber de facto ist es so, dass es nicht schlimmer ist als sonst.“ Das Problem mit Drogenhandel besteht – wird aber in Reiners Augen von Streetwork gut aufgefangen. Die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit ist wohl begründet in Angst. „Es gibt Anwohner:innen, die mit dem Auto vom Haus wegfahren, weil sie sich vor dem Park und seinen Besucher:innen fürchten. Das Einzige, was helfen könnte: Kontakt!“ Dank den Annenviertel-Projekten wie Gemeinschaftsgärten oder „Yoga für alle“ kommen die Menschen ins Gespräch. Sobald man sich untereinander kenne, steige in Marias Augen der Bezug zum Ort und die Hemmschwelle, Vandalismus zu betreiben oder den Park auf andere Art ungemütlich zu machen, wäre höher. Strukturelle Probleme werden dadurch zwar nicht angegangen, aber es wäre ein erster Schritt. „Dass wir so schlecht mit manchen unserer Mitmenschen umgehen, wird uns allen noch auf den Kopf fallen!“ 

Gentrifizierung incoming?

Für Maria bedeutet das Annenviertel Sicherheit. Warum? „Es gibt für jedes Problem eine Lösung: Alkoholismus, Drogensucht, Arbeitslosigkeit. Wir haben die höchste Dichte an sozioökonomischen Einrichtungen im Viertel.“ Wenn man sich ansieht, dass die Caritas in der Mariengasse, tag.werk, heidenspaß, viele Streetwork-Stellen und mehr im Annenviertel ihr Zuhause gefunden haben, stimmt das. Gentrifizierung sieht anders aus, oder? „Für mich ist die Ansiedelung von großen Konzernen DAS Gentrifizierungsmerkmal und das trifft nicht auf unser Grätzl zu“, sagt sie. Ein Indikator, an dem man sich orientieren kann. „Ich komme oft wochenlang nicht aus dem Annenviertel raus. Hier hast du alles, was du brauchst“, sagt Maria. Gerade auch in Lend – die Aufwertung habe nicht die Mieten angehoben. Das sei ein europäisches Städteproblem. Die Dynamik der Mietpreise hängt sicherlich von verschiedenen Faktoren ab, Gentrifizierung ist nur einer davon. In einigen Städten Europas führt die Gentrifizierung aber tatsächlich zu einem Anstieg der Mietpreise, da sie oft mit der Renovierung von Wohngebäuden, einer Verbesserung der Infrastruktur und einem allgemeinen Wandel des Viertels einhergeht, was die Attraktivität für wohlhabendere Bevölkerungsgruppen erhöht. Gleichzeitig war Lend der Bezirk in Graz mit den höchsten Preissteigerungen bei Eigentumswohnungen und Geschäftsflächen zwischen 2006 und 2016, wie im LQI-Endbericht der Stadt Graz zu „residenzieller Segregation“ nachzulesen ist.

Apropos Unternehmen

Die Managerie in der Mariahilferstraße würde oft mit dem Büro des Annenviertel-Vereins verwechselt, erzählt Maria. Dabei sei das „nur“ ihr Brotberuf, alles andere sei Idealismus. 2021 wurde aus dem ersten sogenannten Co-Working-Space der heutige Kiosk. Durch die Corona-Pandemie wurde der gemeinsame Arbeitsraum nicht mehr so häufig genutzt und Maria hatte bereits damit begonnen, ein paar Sachen aus dem großen Schaufenster heraus zu verkaufen. „Mich fragen so viele Leute, ob ich überhaupt ein Gewerbe habe. Ja, hab‘ ich!“, sagt Maria und lacht. Vielleicht ein Zeichen dessen, dass sie mit ihrer Managerie einen Ort geschaffen hat, der in keine Schublade passt. Ein duftendes Wimmelbild zum Anfassen. Und zum stückchen- bzw. happenweise Mit-nach-Hause-Nehmen. „Bis heute habe ich das Gefühl, ich verzaubere die Leute. Mit der Musik, mit dem Geruch, mit dem Alkohol – der ja wirklich manipulativ ist“, sagt sie, schaut auf mein leeres Sektglas und lacht. Nachvollziehbar, denn der Blick auf den Laden löst Urlaubsstimmung aus. Als würde man gerade bei einem Spaziergang in einer südländischen Stadt am Bazar Halt machen und all die neuen Reize aufsaugen wollen, um sie nie wieder zu vergessen. An vier Tagen der Woche zaubert Maria also mit altem und neuem handverlesenen „Zeug“. „Alles, was ich selber gerne hätte, verkaufe ich hier“, erklärt Maria ihr Konzept. Gerade wartet sie auf aufbügelbare Paillettenbilder für Jeansjacken, gut gehen die Bio-Plastik-Haarspangen aus einem frauengeführten Unternehmen, 3D-gedruckte Uhrturm-Kerzen stehen unter Girlanden aus recyceltem Papier aus London, gehäkelte Lampenschirme bastelt sie selbst, Second-Hand-Stücke findet sie auf Flohmärkten.  

Bis zur Pensionierung und noch viel weiter

„Ich hab‘ manchmal so arge Träume; dass alle weggehen aus dem Viertel, die hier ein bisschen mehr machen. Dass nur mehr Leute da sind, die das Notwendigste machen. Das wär‘ schlimm“, sagt Maria. Es gäbe in „ihrem Grätzl“ so viele Menschen, die mit Engagement und Liebe zur Verbesserung der Welt beitragen. Was viele Menschen glücklich macht – und sie auch: „Ich bin so zufrieden und freu mich so über die Sachen, die ich machen darf. Das klingt so kitschig, aber es ist ein Geschenk, dass ich hier geboren bin. Das ist echt ein hundertfacher Lottogewinn.“ Und das wird auch noch lange so bleiben. Nach einem Vergleich bei einem Gerichtsverfahren darf sie mit ihrer Managerie bis zu ihrer Pensionierung bleiben. „Ich fühle mich, als wäre ich in meinem Traumjob pragmatisiert!“ Als Menagerie wurden früher Sammlungen lebender wilder Tiere, die zur Schau gestellt wurden, bezeichnet. Maria: „Managerie ist eine Anlehnung an Menagerie, aber auch gleichzeitig die feminine Form des Wortes Manager!“ Das Schaufenster von Maria bietet zwar keinen Blick auf wilde Tiere, aber dafür in eine andere Welt. Ohne die Managerie und ihre (feministische) Dompteurin wäre es hier wohl ziemlich leer. Nicht nur im Annenviertel, sondern in ganz Graz.

NADINE MOUSA überlegt immer noch, ob sie sich die Vintage-Cowboystiefel in Marias Kiosk kaufen soll.