Was ist eigentlich in Chile los?
Auf Chiles Straßen protestieren seit Oktober Tausende Menschen gegen die Regierung. Alexandra Polič hat im vergangenen Jahr in Santiago gelebt und gesehen: Es mangelt nicht an Geld, sondern an gerechter Verteilung. Aber aus-gerechnet die Wut über die Ungleichheit eint nun das Volk.
Und plötzlich rollen Panzer durch die Straßen von Santiago de Chile. U-Bahn-Stationen brennen. Supermärkte und Banken lodern. Die Feuerwehr löscht die Brände, die Polizei löscht die Wut: mit Gummigeschossen, Wasserwerfern, Tränengas. „Auch wenn alle finden, dass es so aussieht, ich führe gerade keinen Krieg“, sagt General Javier Iturriaga, jener Mann, der in Chile seit Mitte Oktober „für Ordnung zu sorgen hat“. Seine offizielle Bilanz bis zum 19. November 2019: 22 Tote, Tausende Verletzte. Die Dunkelziffer liegt vermutlich viel höher, die sozialen Medien sind überfüllt von Vermisstenanzeigen. Was passiert war? Wer die einfache Rechnung bevorzugt, kann – wie die chilenische Regierung – sagen, dass eine Ticketpreiserhöhung von umgerechnet vier Eurocent Feuer im ganzen Land entfachte. Wer tiefer blickt, sieht: Chile steht nicht erst seit Oktober in Flammen, Chile brennt schon lange.
Begonnen hat alles in der Diktatur unter Augusto Pinochet. Die Privatisierung von Wasser, Gesundheits- und Pensionssystem, die Etablierung des ultraliberalen Wirtschaftssystems. Pinochets Herrschaft endete im Jahr 1990. An der Verfassung oder am Neoliberalismus hat sich aber bis heute nur wenig geändert. Weil das Wasser in Chile privatisiert ist, können große Agrarfirmen das Wasser aus Flüssen ableiten, um etwa Avocados anzubauen. Dadurch sitzen nicht nur lokale Bauern am Land im Trockenen. Vielen Einwohnern bleibt oft nichts anderes übrig, als in die Stadt zu ziehen. Mehr als ein Drittel der Chilen_innen wohnt in der Hauptstadt. Weil ich im vergangenen Jahr selbst dort gelebt habe, weiß ich: Santiago ist teuer – nicht nur für chilenische, sondern auch für europäische Verhältnisse. Für mein etwa zehn Quadratmeter großes Zimmer in der Innenstadt habe ich monatlich 240 Euro bezahlt. Mittlerweile kostet es mehr: Die Strompreise stiegen allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um 18 Prozent. Ein Einkauf im Supermarkt fällt manchmal sogar teurer aus als bei uns – deswegen kann man auch jede noch so kleine Summe in Raten abbezahlen. Für den öffentlichen Verkehr gibt es weder Monats- noch Jahreskarten. Jeder Passagier bezahlt pro Fahrt. Nach der vierten Preiserhöhung innerhalb von vier Jahren kostet eine Fahrt während der Stoßzeiten einen Euro. Frühmorgens oder spätabends sind die Tarife ein wenig billiger. In der Erhöhung sah Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine also kein Problem: „Demjenigen, der früh aufsteht und die Metro um sieben Uhr nimmt, wird geholfen“, sagt er über ein Verkehrsnetz, das im Vergleich zum Einkommen zu den teuersten der Welt zählt. Denn das alles bezahlen 50 Prozent der Arbeiter laut dem Nationalen Statistikamt (INE) von umgerechnet 504 Euro Gehalt im Monat oder weniger – der Mindestlohn beträgt etwa 373 Euro. Ein Regierungspolitiker verdient bis zu 40 Mal so viel. Das heißt konkret: Ein Prozent der Bevölkerung erhält 33 Prozent des Einkommens, wie ein UN-Bericht aus dem Jahr 2017 zeigt.
Das Geld für Kranken- und Pensionsvorsorge fließt in private Hände. Und der Kapitalismus greift auch hier: Viele Leistungen decken die Versicherungen gar nicht. Familien organisieren Nachbarschaftsfeste, um Spenden für notwendige Operationen zu sammeln. Weil die Mindestpension von 125 Euro pro Monat nicht zum Leben reicht, arbeiten oft Pensionisten auf der Straße. Die Selbstmordrate der über 80-Jährigen ist die höchste des Landes. Aber für das Unglück und die Unzufriedenheit haben Präsident Sebastián Piñera und seine Regierung kein Verständnis. Als die Wogen nach der Preiserhöhung hochgehen und durch nichts zu glätten sind, ruft er erst den Ausnahmezustand aus, verhängt dann eine nächtliche Ausgangssperre und erklärt seinem Volk zum Schluss den Krieg. Bald sieht die Stadt aus wie in Zeiten der Diktatur, überall patrouillieren Militärs, das Geräusch von Schüssen hallt durch die Hauptstraße, Patronen durchschneiden die vom Tränengas getrübte Luft und die Haut der Demonstrant_innen.
„En Chile nos están matando“ – „in Chile töten sie uns“, steht in jedem einzelnen Facebook- und Instagram-Account meiner Freund_innen aus Santiago. „Wir führen Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert“, sagt Piñera im nationalen Fernsehen, das seine Live-Übertragungen ins Ausland fast zur Gänze eingestellt hat. Immer mehr Journalist_innen legen ihre Arbeit bei chilenischen Medien nieder. Die meisten Bilder, die es in europäische Medien schaffen, zeigen Feuer. Tatsächlich brennen Banken, Supermärkte und Häuser. Wer die Feuer gelegt hat, steht für die Regierung fest, aber Beweise will sie keine bringen. Die Gerichtsmedizinerin Aleida Kulikoff, die die Todesursache der Brandopfer untersuchen sollte, hat ihr Amt mittlerweile nicht mehr inne.
Piñera spürt den Druck und sagt Veranstaltungen wie die UN-Klimakonferenz oder das Apec-Gipfeltreffen ab. Die Not seines Volkes versteht der Milliardär nicht. Mit jedem sozialen Maßnahmenpaket, das er nun ankündigt, verleiht er gleichzeitig auch Militär und Polizei mehr Macht, verschärft Gesetze, erhöht Strafen. Laut der chilenischen Menschenrechtsorganisation INDH wurden bereits mehr als 6.000 Menschen festgenommen und 2.381 Menschen so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus mussten.
Aber die Chilen_innen zeigen keine Angst – sie haben nichts zu verlieren. Was die Regierung vorhatte, war ein vermeintlich billiger Streich. Umgerechnet vier Eurocent hätte er die Chilen_innen pro Fahrt kosten sollen. Im Internet kursieren Montagen mit U-Bahn-Schildern. „Richtung 1973“ steht darauf geschrieben, zurück in das erste Jahr der Pinochet-Diktatur. Aber das chilenische Volk steigt nicht ein: „Wir sind nicht im Krieg, wir sind vereint“, steht auf ihren Schildern. Beim bisher größten Protestmarsch rufen mehr als eine Million Menschen im ganzen Land „Chile despertó“ – Chile ist aufgewacht. Denn der Rest der Welt soll hören, warum Chile brennt.