Ohne Not in der Notschlafstelle
Es ist fünf Uhr morgens. Ich liege hellwach in einem unvorteilhaft durchgelegenem Bett. Um mich herum stehen drei weitere Betten. In ihnen drei Personen ohne Namen. Alle schlafen, außer ich. Ohrenbetäubendes Schnarchen im gefühlt dreistelligen Dezibel-Bereich durchdringt die nächtliche Stille. Eine Nacht in der Notschlafstelle Arche 38.
Aber zurück zum Anfang: 30 Schlafplätze, Frühstück und Abendessen. Die Notschlafstelle der Arche 38 bietet tagtäglich erwachsenen in- und ausländischen Männern bei akuter Wohnungsnot einen Schlafplatz. Außerdem bietet die Arche 38 Basisversorgung, weitere Wohnmöglichkeiten und individuelle Beratungsdienste an. Notschlafstellen sind ein lebenswichtiger Rettungsanker für Menschen ohne festen Wohnsitz. In Einrichtungen wie der Arche 38 oder dem VinziNest finden Menschen in der Obdachlosigkeit Schutz vor Kälte und Gefahren der Straße. Es ist ein altbekanntes Konzept sozialen Engagements, Menschen in schwierigen Zeiten Obdach zu geben. Wie die Aufenthalte in diesen Anlaufstellen jedoch tatsächlich aussehen, wissen nur wenige. Während Politiker:innen rechtskonservativer „bürger:innennaher“ Parteien wie ÖVP-Klubobfrau Daniela Gmeinbauer, sich über den Anblick von Wohnungslosen echauffieren, sollte man sich eher die Frage stellen: Wie fühlen sich wohl die Menschen, die tatsächlich auf der Straße sitzen? Diejenigen, denen nicht mal der öffentliche Raum kommentarlos zuteilwird.
Vorurteil lässt grüßen
In zwei Tagen werde ich in einer Notschlafstelle schlafen. Durch meinen Kopf schwirren zahllose Gedanken und Sorgen. Ist es moralisch vertretbar und was ist der Mehrwert? Betreibe ich eine Art Elendsvoyeurismus, der meine Klischees bedienen soll? Und laufe ich in Gefahr, tatsächlich Bedürftigen einen sicheren Schlafplatz wegzunehmen? Diese und viele weitere zweifelnde Fragen stelle ich mir immer wieder, um am Ende doch zum Schluss zu kommen, dass ein Einblick für mich und für den Bericht gleichermaßen wertvoll sein kann. Denn wie, wenn nicht durch „echtmöglichste“ Einblicke soll Verstehen resultieren?
Bevor ich aufbreche, lege ich mir ein paar Sachen zurecht und beginne mich vor mir selbst zu wundern. Ich entscheide mich dafür, möglichst neutrale Kleidung anzuziehen. Sprich: Alte Turnschuhe, schwarze Hose, grauer Pullover mit nicht funktionstüchtigem Reißverschluss und einer alten Fleecejacke. Eine Haube darf auch nicht fehlen. Und siehe da, ich habe ein Bild vor Augen. Ohne nur einen Schritt in eine Notunterkunft gemacht zu haben, bilde ich mir ein, ich wisse, wie diejenigen aussehen, die dort übernachten. Ich reduziere sie auf die Obdachlosigkeit, auf die vermeintliche Notwendigkeit ausschließlich robuste Kleidung zu tragen und gestand ihnen im selben Gedankengang nicht zu, dass sie auch einfach Menschen sein können, die gegebenenfalls Wert auf ihr Äußeres legen. Eine Überlegung, die mich jedoch nicht davon abhält bei meinem „outfit of the day“ zu bleiben – zu groß ist meine Sorge, mit auffälligerer Kleidung anzuecken, gar ungewollt zu provozieren.
Ambiente? 10/10!
„Modern art museum“ ertönt im besten amerikanischen Englisch durch die Lautsprecher der Straßenbahn. Ich entscheide mich auszusteigen und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Einen knapp 20-minütigen Gehweg trennen den Südtirolerplatz und die Arche 38 am Eggenberger Gürtel. Wie oft bin ich wohl durch die Straßen gegangen und habe mir selbst gesagt: ‚Heute nicht, ich habe eh kein Kleingeld dabei‘? Mir wurde in solchen Momenten die Macht zuteil, mich selbst zu blenden und andere auszublenden. Ich entschied und entscheide weiterhin, wann ich Armut und Wohnungsnot Raum in meinem Leben gebe und wann nicht. Das ist Hochmut vom Feinsten.
Ich biege auf den Eggenberger Gürtel ab. In der Ferne beleuchtet ein pinkes Neonschild mit der Aufschrift „Nightclub“ den Gehsteig. Daneben donnern Autos über die Straße, die einander im Anfahren, Motor aufheulen und abruptem Abbremsen überbieten. Verkehrsfluss Fehlanzeige. Ein „schönes“ Ambiente, denk ich mir. Ich betrete die Einrichtung durch einen gesicherten Eingang, und die Erstregistrierung steht an. Das Prozedere ist wohl üblich. Altbekannte gehen nach kurzem Blickkontakt zielsicher durch den Eingang. Mir werden die Spielregeln erklärt: Kein Alkohol, keine anderweitigen Drogen. Es verläuft unkompliziert. Ein trockener und gleichwohl herzlich unaufgeregter Empfang. Durch eine Tür führt ein Aufstieg in einen kargen Flur. Es gibt wenig, das die Stimmung aufhellt – triste Wände, triste Türen, triste Einführung. „Hier das Bad, dort der Aufenthaltsraum mit Abendessen“, erklärt ein Mitarbeiter, während er auf Brot, Marmelade und Butter hinweist. Das zugewiesene Vierbettzimmer für die Nacht empfängt mich mit einem bekannten Geruch, der an Hostels erinnert. Schweiß dominiert. „Ob das Zimmer wohl voll belegt sein wird?“, frage ich mich zu diesem Zeitpunkt mehr als naiv. Das Bett ist nicht frisch bezogen, also entscheide ich mich, es selbst zu beziehen. Frisches Bettzeug wird bereitgestellt. Danach überlege ich, ob ich etwas essen oder eine Zigarette rauchen soll, wie die meisten. Über den Flur höre ich das Keuchen eines anderen Bewohners, das an meinen eigenen Raucherhusten nach einer langen Partynacht erinnert. Ich entscheide mich erst einmal gegen eine Zigarette. Die Stimmung ist bedrückend. Zeit für einen Tapetenwechsel.
Abendessen mal anders
Anderer Raum, dieselbe Tapete. Im Fernseher läuft hitradio Ö3 mit Taylor Swift, oder etwas, das nach ihr klingt. Auf den zweckmäßig verteilten Tischen stehen Ikeas weiße Kunststoff- „Tausendsassa der Kleinteilordnung“ – hier als Brotkorb zweckentfremdet. Daneben steht jeweils eine Schüssel mit Marmelade und ein Stück Butter. Es gab wohl Aufschnitt, aber davon ist nichts zu sehen. In diesem Moment überkommt mich ein Gefühl der Bescheidenheit. Ich entscheide mich für einen Früchtetee und ein einfaches Brot ohne alles – muss reichen. Alle anderen schmieren sich genüsslich ihre Brote und unterhalten sich. Man kennt sich offenbar. Ein älterer Mann mit hagerer Statur und weißen Vollbart lauscht aufmerksam dem Radio, während vor ihm drei gefüllte Teetassen und unzählige Marmeladenbrote stehen. Nächster Song: „Where is the love?“, von den Black Eyed Peas. Ein Lied, das die Menschenrechte und das menschliche Miteinander hervorhebt und Missstände anprangert. Passender könnte es nicht sein. Ich gehe rauchen.
Menschen, keine Zahlen
Auf dem kleinen Balkon angekommen treffe ich auf zwei Männer in den Dreißigern, die vor einiger Zeit aus Afghanistan nach Österreich kamen. Beide sind sichtlich vom Leben gezeichnet. Ihre konkrete Situation ist mir bis heute unbekannt. Ihre Einstellung jedoch pragmatisch. Ich bemerke, wie unsere flüchtige Unterhaltung Themen ebenso oberflächlich behandelt, wie Karl Nehammer sich mit sozialer Ungerechtigkeit auseinandersetzt. Einige Zeit später und ich sitze noch immer auf dem Balkon, jedoch mittlerweile allein. Mein Blick streift zwischen dem traurig grauen Innenhof und dem Gemeinschaftsraum. Es liegt Obst aus. Genauer gesagt sieben Mandarinen. Einer meiner vorigen Gesprächspartner nimmt sich auf Anhieb drei. Wieso teilen, wenn eh nichts da ist? Ich versuche, den Gedankengang zu verstehen. Merke aber, wie ich das Verhalten innerlich verurteile. Nur um später eines Besseren belehrt zu werden. Währenddessen höre ich, wie jemand über seinen damaligen Beruf redet. Dass der Mann, der jetzt mit strammem Lederhut, mittellangem fettigem Haar und Kopfhörern um den Hals in der Notschlafstelle unterkommt, einmal Lehrer gewesen sein soll, zeigt, wie schnell sich das Leben ändern kann. Ein anderer erzählt mir beiläufig, dass sich nur durch einen kleinen „Fehler“ sein ganzes Leben änderte. „Hätten sie die Beute nicht gefunden, wäre ich heute nicht hier“. Ja, er hat eine Bank ausgeraubt. Wie wohl die meisten Menschen sind auch jene Wohnungslose oftmals Täter und Opfer zugleich.
Geste der Freundlichkeit
Mittlerweile ist es irgendwas zwischen 21 und 23 Uhr. Ich bin müde, kann jedoch nicht schlafen – ganz im Gegenteil zu meinen Zimmernachbarn. Beim Blick aus dem Fenster strahlt der hellerleuchtete Balkon in mein Gesicht. Kleine Plastiksessel, ein großer prallgefüllter Aschenbecher und wild verteilt stehende Gläser und Tassen des vergangenen Abendessens stehen herum. Auf dem Balkon raucht jemand genüsslich seine Zigarette. Warum die Person wohl eine goldene Sonnenbrille trägt, obwohl es Abend ist?
In einer Hand halte ich eine Mandarine. Eine derjenigen, die meine flüchtige Bekanntschaft zuvor so selbstsicher an sich genommen hatte. Vorm Schlafengehen wurde sie mir als Geschenk in die Hand gedrückt. In der anderen Hand halte ich Ohrstöpsel. Ein weiteres Geschenk, das mir in weiser Voraussicht von meinem direkten Bettnachbarn mit einem nüchternen „Wirst du brauchen!“ in die Hand gedrückt wurde. Er verteilte sie auch an die anderen, die in dieser Nacht im Zimmer lagen. Diese Rücksicht beeindruckt mich. Ich entscheide mich für eine letzte Zigarette – allerdings ohne Sonnenbrille.
Wenig Schlaf, viel gelernt
Die Nacht verläuft durchwachsen. Mit dem Schlaf will es nicht so recht gelingen, da helfen weder Ohrstöpsel noch Kopfhörer, die ich zwischenzeitlich zur Geräuschbekämpfung genutzt habe. Das Schnarchen ist zu laut, die innerliche Anspannung weiterhin zu hoch. Ich beginne nachzudenken: Welche Geschichten verbergen sich wohl noch hinter der Fassade meiner Bettnachbarn? Was passierte, dass der Status Quo heißt, wohnungslos zu sein?
„Ein Dach über dem Kopf sollte keine Handelsware sein und schon gar kein Luxusprodukt – es ist ein Menschenrecht! Dennoch sind wir weit davon entfernt“, schrieb ich selbst im Editorial der Novemberausgabe 2022. Surprise, es hat sich nichts geändert. Die Arche 38 oder andere Notschlafstellen sind keine Lösung, sie sind Symptombehandlungen eines krankenden Systems. In unserem Land haben zahlreiche Menschen keinen legalen Aufenthaltsstatus, was ihnen den Zugang zu entsprechenden Unterstützungsleistungen versperrt. Einige der Obdachlosen leiden unter psychischen Störungen und/oder Suchterkrankungen, die die bürokratischen Hürden unüberwindbar machen. Zusätzlich entsteht oft ein Teufelskreis aus Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit: Ohne einen festen Job ist es schwer, einen Mietvertrag zu erhalten, und ohne Mietvertrag ist es wiederum nahezu unmöglich, eine Arbeitsstelle zu finden. „Wohnungslosigkeit ist nur die Spitze des Eisbergs. Sie ist multifaktoriell und in der Regel ein Zustand, der von vielen anderen Problemlagen begleitet wird“, wird mir später Arche-38-Leiter Stefan Bottler-Hofer erzählen. Vor allem für die adäquate Betreuung von Menschen mit psychischen Störungen fehle es an Mitteln – genauer: Geld und Personal.
Nieselregen und Sonnenstrahlen
Um 5 Uhr morgens wache ich auf und bin verwundert, überhaupt geschlafen zu haben. Es herrscht bereits Aufbruchsstimmung. Die ersten stürmen aus dem Zimmer. Es beginnt, so lerne ich später, der Kampf um die Plätze im Bad: duschen, rasieren, Zähne putzen, Wäsche waschen und Parfum auftragen – nicht wenige betreiben eine intensivere Pflegeroutine als ich. Ein Umstand, der meine anfänglichen Vorurteile in ein nochmals schlechteres Licht rückt. Ich fasse den Entschluss, noch vor dem Frühstück aufzubrechen. Nicht, weil mir der Magen nicht knurrt – ganz im Gegenteil. Das Brot vom Abend zuvor hat mich kaum gesättigt. Ich möchte einfach raus. Es nieselt, als ich die Arche 38 verlasse, doch vereinzelt kämpfen sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke. Ich fühle mich frei, frei zu entscheiden, was ich als Nächstes tun werde. Ich lasse den Schlafraum mit seinen Gerüchen und Geräuschen hinter mir und gehe wortwörtlich in mein Leben zurück – so pathetisch das klingen mag.
Nach meiner Rückkehr fühle ich mich kurzzeitig leer. Dann überkommt mich ein warmes Gefühl und die Frage: Wo befinden sich wohl meine Zimmergenossen gerade? Ich zünde die Tabakbüscheln meiner selbstgedrehte Zigarette an und blicke vom Balkon, meinem Balkon. Und während ich einen tiefen Zug nehme, erkenne ich das warme Gefühl: Sicherheit. Sicherheit, ein Zuhause zu haben.
Claudio Niggenkemper würde sich freuen, wenn Wohnungslosigkeit nicht nur in Zeiten gekünstelter weihnachtlicher Nächstenliebe Aufmerksamkeit gespendet wird.