Text: Martina Stix
Das vertraute Gefühl von Holz in der Hand
In der eigenen Wohnung Kaffee trinken, einen Film im Kino sehen, das Lieblings-Eishockeyteam anfeuern: diese Wünsche mögen einem klein und alltäglich erscheinen. Wenn man gesund ist. Für schwer erkrankte Menschen sind sie jedoch riesengroß und bleiben meist unrealisierbar. Das Projekt „Samariter-Wunschfahrt“ erfüllt Herzenswünsche dieser Art. So wie jenen von Konrad, der noch einmal zu seinem Hanggrundstück wollte, das er seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Eine bewegend-berührende Begegnung und Begleitung.
Keine vorbeifahrenden Autos, keine sich unterhaltenden Menschen, keine spielenden Kinder. Das einzige Geräusch, das man hier – rund 45 Minuten Fahrtzeit von Graz entfernt – gerade hört, stammt vom reversierenden Spezialfahrzeug dessen Farbe dem wolkenleeren Himmel eine zusätzliche Blau-Nuance an die Seite stellt. Das letzte Stück der Anfahrt auf dem schmalen Feldweg mitten durch zwei Äcker und zum bewaldeten Hang hin absolvieren Martina Lechner, Oliver Chramosta und Lukas Schuller rückwärts – obwohl die drei Ehrenamtlichen vom Projekt „Samariter-Wunschfahrt“ heute noch viel vor sich haben. „Mein geliebtes Hanggrundstück wiedersehen“: So lautete der Wunsch von Fahrgast Konrad*. Seine Frau Regina, die jetzt als Begleitperson mit ihm im außen von Künstler Josef Bramer gestalteten Wagen sitzt, reichte diesen bei der Initiative des Bundesverbands des Arbeiter-Samariter-Bundes vor mehr als zwölf Monaten ein. Neun Jahre sind mittlerweile vergangen, seit Konrad die Diagnose Glioblastom, bösartiger hirneigener Tumor, erhielt. Ähnlich lange ist es auch her, dass der 81-Jährige zuletzt diesen für ihn so wichtigen Platz besuchte.
Als der blaue Transporter endgültig zum Stillstand kommt wird schnell klar, warum es heute drei Wunscherfüller braucht. Denn so sehr das Spezialfahrzeug auch für etwaige Bedürfnisse der Fahrgäste adaptiert wurde, an die Erfordernisse des steilen Geländes vermag es sich nicht anzupassen. „Es war eine weise Entscheidung, dass wir zu dritt da sind. Die meisten Termine finden mit zwei Ehrenamtlichen statt, aber bei der Beschreibung der Lage hier war schnell klar, dass das nicht reicht“, meint Lukas Schuller während er mitanpackt, um Konrad auf einer Trage mit Rollen die letzte steile Kurve zum Grundstück hinaufzubringen.
Corona-Pandemie und schlechte Wetterbedingungen beim ursprünglichen Termin ließen viel Zeit zwischen Einreichung und Erfüllung des Wunsches verstreichen. Oben bei der schlichten Holzhütte und der sie umgebenden flachen Wiese angekommen, gewinnt man den Eindruck, als hätten sich der tiefblaue Mai-Himmel und die sattgrünen Frühlingswiesen zusammengetan, um nach der extralangen Wartezeit das Wiedersehen mit dem Ort heute umso schöner auszugestalten. Die drei Ehrenamtlichen versuchen zudem, die Trage an einem Platz abzustellen, der Konrad die schönstmögliche Aussicht darauf gewährt. So wie sie nun das Gewicht der Trage an die feuchte Erde abgeben, geben auch die Angehörigen an einem Wunscherfüllungstag oft ihre Last ab. Man hat bei diesem Bild die Worte von Therese Kirchner, zuständig für die Koordination der Fahrten, im Ohr. Im Vorgespräch erzählte sie: „Für die Familie ist so einem Tag meist ein langer Leidensweg vorangegangen. Bei Angehörigen ist die Wunscherfüllung deshalb oft mit einem Gefühl des Loslassens verbunden, weil sie, wenn auch nur zeitlich begrenzt, die Verantwortung für die Pflege an die Ehrenamtlichen abgeben können.“
Die Idee, schwerkranken Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen mithilfe medizinischer Unterstützung Wünsche zu erfüllen, entstand in den Niederlanden. Dort rollt die „Stichting Ambulance Wens“ seit 2007 durchs flache Land. Danach begann die Idee weltweit von Australien bis Ecuador Fuß zu fassen, 2017 auch in Österreich. Seit dem Projektauftakt damals wurden mit einem einzigen Fahrzeug, das in Wien stationiert ist, österreichweit 70 Wunschorte besucht, 593 Menschen verbunden, 46.274 Kilometer zurückgelegt – und das alles ausschließlich mit der Hilfe von 147 Ehrenamtlichen. Finanziert sich die Initiative doch gänzlich aus Spendenmitteln sowie über ehrenamtliche Mitarbeit. Denn das oberste Ziel lautet: Eine Wunschfahrt muss für Fahrgast und Begleitperson kostenfrei sein. Lukas Schuller stellt fest: „Alleine schon der Transport wäre kaum leistbar, wenn man sich durchrechnet, was ein regulärer Krankentransport kostet.“ Der 27-Jährige fügt aber hinzu, dass es weit mehr als ein klassischer Krankentransport sein müsse, damit eine Anfrage erfüllt werde: „Es ist eine Fahrtbegleitung. Wir sind als Ehrenamtliche Teil der Wunscherfüllung.“ Apropos: Auch das Projektteam selbst würde sich etwas wünschen – dass sich Fahrgäste oder Angehörige früher melden, als es in der Regel der Fall sei. Denn oft müssten Anträge vom Fahrgast selbst wieder abgesagt werden, weil die Kräfte nicht mehr reichen.
Konrad – geistig sehr fit, aber aufgrund der Erkrankung halbseitig gelähmt – fällt das Sprechen schwer. Wobei es im Grunde genommen gar keiner Worte bedarf, um wahrzunehmen, wie sehr er die Rückkehr genießt. Und dennoch ist es seiner Frau Regina wichtig, seine Stimme zu sein: „Es gefällt ihm so gut, er hat schon gesagt, er bleibt einfach da.“ Konrad erwarb das Grundstück 1979 – als Kraftort zum Ausgleich von seinem Bürojob im Rechnungswesen eines großen Unternehmens. Sein Sohn, der mit seiner Lebensgefährtin zur Wunscherfüllung dazugekommen ist, erzählt: „Es hat ihn nie gestört, dass man hier nicht bauen kann. Ihm ist es einfach darum gegangen, in der Natur zu sein. Er war sehr sportlich und hat für sich immer etwas gefunden, was hier zu tun oder zu erledigen war.“ Kaum ist dieser Satz gesagt, scheint dem Sohn klar zu sein, dass für ihn jetzt sofort auch etwas zu tun ist. Er greift nach einem herumliegenden Holzbeil, geht damit zu seinem Vater und legt ihm dieses in die Hand. Konrads Regung verrät, wie vertraut ihm das Gefühl des Stiels in der Hand auch nach all den Jahren, ohne damit Holz gehackt zu haben, noch ist – und wie sehr er es vermisst haben muss.
Während Oliver Chramosta und Lukas Schuller jeweils bereits mehrere Fahrten absolviert haben, ist es für Martina Lechner der erste Einsatz mit dem blauen Wunschmobil. Über ihre Gefühle sagt sie: „Ich kann natürlich nicht einschätzen, wie es mir mit etwas Abstand geht und es wird wohl auch bei jeder Fahrt anders sein. Gerade kann ich nur sagen, dass ich mir mehr Trauer erwartet hätte. Die ist hier und jetzt jedoch überhaupt nicht präsent. Es geht nur um den Moment und die schöne Zeit, die wir unserem Fahrgast und seinen Angehörigen ermöglichen können.“ Die Vorbereitung auf Empfindungen, die nach so einem Tag hochkommen könnten, ist dennoch fixer Bestandteil der Schulung vor der ersten Fahrt. Werden die Ehrenamtlichen dabei doch nicht nur auf das Fahrzeug, das Projekt an sich und dessen Ablauf eingeschult, sondern auch psychologisch präpariert. Es geht dabei etwa um Kommunikation mit der Zielgruppe, wie man sich zum Beispiel nach einem gemeinsamen Tag vom Fahrgast und den Angehörigen verabschiedet. Thema ist aber auch, wie es gelingt, den Schalter umzulegen: vom im Rettungswesen omnipräsenten Streben nach Lebensrettung hin zum unvermeidlichen Sterben. Wie geht die 22-Jährige damit um? „Normalerweise ist es für mich als Rettungssanitäterin ja so, dass ich jemanden immer in einem besseren Zustand entlassen will, als ich sie oder ihn getroffen habe. Bei der Wunschfahrt ist aber von vornherein klar, dass das nicht geht. Man braucht einen anderen Ansatz, eine andere Herangehensweise. Physisch kann ich nichts verbessern, aber psychisch schon. Man muss es als Behandlungsmethode sehen, bei der man nicht medizinisch behandelt.“
Und diese andere Behandlungsmethode scheint anzuschlagen: Man sieht Konrad an, wie sehr er, der seit Jahren das Pflegeheim in der Nähe von Graz nicht mehr verlassen konnte, in diesen Stunden unter freiem Himmel aufblüht. Während er gemeinsam mit Regina am schattigen Waldrand die Zeit und die Aussicht auf das angrenzende Wildgatter genießt, sitzen die drei Ehrenamtlichen in Rufweite auf einer Decke und picknicken – immer bereit, falls ihr Fahrgast etwas benötigen sollte. Auch sie scheinen ganz im Moment zu sein und diesen zu genießen. Zwischen Tomaten, Hummus und Brot erzählt das Trio davon, warum es über den Beruf hinaus – auch in der Freizeit, an einem Sonntag, am Muttertag – anderen Menschen helfen möchte. Lukas Schuller spricht die unglaubliche Dankbarkeit und Wertschätzung an, die man nach so einem Tag zurückbekomme. Martina Lechner fügt hinzu: „Es ist auch ganz toll, wie sehr wir hier als Team eingebunden sind. Wir haben nicht nur jemanden transportiert, wir sind Teil des Wunsches.“ Und Oliver Chramosta meint: „In meinem Berufsalltag habe ich mit den Patient:innen ja nur sehr kurz zu tun. Es ist schön, wenn man mit dem Fahrgast und den Angehörigen nicht nur eine Stunde, sondern fast einen ganzen Tag verbringt. Man hat viel mehr Zeit, Menschen etwas Gutes zu tun und man bekommt so viel mehr Gutes zurück.“
Doch selbst wenn es mehr Zeit sein mag als im Rettungsdienst-Alltag, irgendwann neigt sich auch eine Wunschfahrt dem Ende zu. „So sehr mein Mann am liebsten noch länger bleiben würde … es war doch ein langer und aufregender Tag, vielleicht sollten wir dann doch schön langsam alles zusammenpacken“, wendet sich Regina etwas schüchtern an die Ehrenamtlichen. Und auch dieser Wunsch wird natürlich erfüllt. Das Trio ist sofort zur Stelle und beginnt, gelassen und gezielt gleichermaßen, alles für die Rückfahrt vorzubereiten.
Wenn man Konrad und Regina hier so entspannt, glücklich und befreit sieht, fällt es einem nicht so leicht, die Gedanken wegzuschieben, dass es für das Ehepaar wohl die letzten gemeinsamen Momente an diesem so besonderen Ort sein werden. Und man fragt sich auch, wie es wohl den Ehrenamtlichen damit ergehen mag – auf der Fahrt zurück nach Wien oder auch in den Tagen danach. Oliver Chramosta findet bewegend-berührende Worte dafür, der 28-Jährige meint: „So traurig eine Krankengeschichte auch sein mag, kann ich dennoch sagen, dass ich noch nie, wirklich nie, traurig aus einer Wunschfahrt rausgegangen. Für mich überwiegt immer das Schöne, dass ich als Außenstehender bei einem so einmaligen Erlebnis für eine Familie dabei sein darf.“
SAMARITER-WUNSCHFAHRT Ein Wunschantrag kann auf der Homepage wunschfahrt.at per Online-Formular gestellt werden. Für Fragen zum Projekt steht das Team zur Verfügung unter Tel (01) 89145– 386 oder E-Mail an wunschfahrt@samariterbund.net.
*Namen des Fahrgastes und seiner Angehörigen zu deren Schutz geändert, geografische Lage des Grundstücks nicht genannt