Text: Ronald Frühwirth
Flüchtige Begegnung
Der ehemalige Megaphon-Kolumnist und Asylanwalt Ronald Frühwirth mit einer vagen Annäherung an die Grazer Amokfahrt, die sich am internationalen Tag der Flucht vor sechs Jahren ereignete.
I.
An Samstagvormittagen ging ich früher gerne laufen. Wochentags arbeitete ich von früh bis spät, am Samstag konnte ich bei Tageslicht Runden durch den Augarten drehen. Die Bewegung schuf Raum für frische Gedanken, die dann aber meist nicht weit genug abschweiften, um die drängendsten Aufgaben vergessen zu lassen. Das Ende eines solchen Laufes führte mich deshalb oft in die Kanzlei, wo sich während des Cooldowns kurze Notizen auf Aktendeckeln anbringen ließen. Meist blieb es nicht bei ein oder zwei verschriftlichten Überlegungen. Mein Blick fiel allzu gerne auf weitere Akten. Es war schwer, in meinem Büro an ihnen vorbeizusehen. Also wurden da und dort noch weitere Notizen angebracht. Das Schrifteln überdauerte an vielen Samstagen den Cooldown. So auch am 20. Juni des Jahres 2015, dem internationalen Tag der Flucht. In der Büroküche lag noch eine Banane herum. Der Hunger ließ mich schließlich von den Akten absehen. Ich nahm die Banane und verließ das Büro. Die Kanzlei lag nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Die kurze Distanz erleichterte derlei Arbeitssessions. Wohnung und Büro lagen beide direkt am Murufer, die eine am linken, das andere am rechten, verbunden durch die Augartenbrücke, der ich mich nun mit einem Gefühl der Unzufriedenheit näherte. Schon früher hätte ich mich nach Hause aufmachen können, so der Kritiker in mir. Zu schön wäre der Tag, um ihn zu lange im dunklen und kühlen Büro zu verbringen. Ich ärgerte mich darüber, dass ich es nicht geschafft hatte, bei dem zu bleiben, was ich mir zuvor vorgenommen hatte: zehn Minuten, höchstens zwölf bis dreizehn Minuten im Büro zu verbringen. Es wurden fünfunddreißig Minuten, die – so mein Anspruch – nun wieder eingeholt werden müssten. Meine Langsamkeit missfiel mir. Eine alte Unzulänglichkeit, mit der ich an diesem Tag meinen Frieden schließen sollte. Womöglich wendete sie nämlich ein größeres Unglück von mir ab.
II.
Am Weg zur Augartenbrücke jedenfalls ärgerte ich mich noch. Dann aber ließ mich das laute Aufröhren eines Motors aufschrecken. Plötzlich raste ein für Grazer Straßen viel zu großer Pick-up aus der Zweiglgasse in die Kreuzung mit dem Grieskai ein. Irre, dachte ich, diese Geschwindigkeit. In meiner Erinnerung schwebt der Pick-up über die Straße, er fliegt über den Asphalt, zu schnell, um mit den Rädern am Boden bleiben zu können. Der Fahrer blickte aus dem geöffneten Fenster zu mir herüber. Das Bild geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Ein Mann mit dunklem Bart und dunkler Brille, den linken Arm lässig halb aus dem Fenster der Fahrertüre gelegt, laute E-Gitarren-lastige Musik dröhnte aus dem Wagen. Fahrzeug und Fahrer gehören nicht hierher, dachte ich damals. Ich schaute kurz nach einem Surfbrett auf der Ladefläche. Es hätte dorthin gepasst. Der Fahrer rief etwas zu mir hin, es klang nach bloßem Grölen. Unsere Blicke trafen sich; sofern sich das durch die Sonnenbrillen hindurch sagen lässt. Es fühlte sich jedenfalls so an. Ich glaubte, ein kurzes Zögern zu erkennen, dann riss der Fahrer das Lenkrad nach rechts. Ich weiß noch, dass der Pick-up über die Bordsteinkante fuhr, ohne dass die sich wirklich bemerkbar machte. Kein Rütteln des Fahrzeugs, kein dumpfer Knall, der Wagen fegte einfach über sie hinweg. Es krachte dennoch: Ein Radfahrer flog durch die Luft. Der Pickup düste vom Gehweg auf die Straße zurück. Dabei rumpelte es nun doch noch. Der Wagen schlingerte kurz, dann verlor ich ihn nach der Brücke aus den Augen. Der Radfahrer krümmte sich am Gehweg. Er schrie auf, hielt sein Knie. Ich eilte über die Straße. Ansonsten war es still wie sonst nie an dieser Kreuzung. Ein Blick nach rechts in die Zweiglgasse: Ein Öffi-Bus stand dort mitten auf der Straße. Dahinter andere Autos. Sonst nichts. Erst auf den zweiten Blick hin stellte ich mir die Frage: Liegt da ein Mensch auf der Straße vor dem Bus? Der nächste Blick ging aber zunächst zurück zum Radfahrer. Ich erreichte ihn. Er wimmerte und wand sich vor Schmerz. Ich fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Seine Antwort hörte ich nicht, meine Sinne waren woanders hin ausgerichtet, suchten Anzeichen für das Wiederaufflackern der Gefahr zu erkennen, die sich in der Umgebung fühlen ließ. Aber es blieb völlig still. Das Wimmern des Radfahrers nahm ich nur irgendwo weit im Hintergrund wahr. Dann wurde es wiedergegeben. Aus der Zweiglgasse kam auch ein leises Weinen. Aus dem Bus stieg jemand aus, langsam. Mein Blick ging in die andere Richtung, die Augartenbrücke hinauf. Der Pick-up hatte ein geparktes Auto gerammt. Er stand nun am Straßenrand vor der Spar-Filiale. Ein kurzer Moment der Furcht kam auf; die Frage, ob der Fahrer zurückkommt, ob er mit dem Radfahrer eine Rechnung zu begleichen hat. Von der anderen Seite näherte sich ein Auto. Es kam von Süden her, bog vom Grieskai herein. Der Beifahrer öffnete das Fenster. Ist er absichtlich auf den Gehsteig gefahren?, fragte er ungläubig und betroffen. – Ich denke ja, antwortete ich. – Ist der verrückt? – Ich denke ja. Der Radfahrer kam zur Ruhe. Ob ich ihn angegriffen, ihm geholfen habe, sich hinzusetzen, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls bot ich ihm meine Banane an, da bin ich sicher. Eine Frau näherte sich uns. Sie hatte eine Wasserflasche dabei. Wir hockten kurz zu dritt. Aus der Zweiglgasse drang Wehklagen zu uns. Ich griff zu meinem Telefon und rief die Rettung, kam nicht durch, dann doch, oder nicht … Ich weiß es nicht mehr. Aus der Zweiglgasse näherten sich mit großer Geschwindigkeit nun Fahrzeuge, drei oder vier dunkle, schnelle Wagen, mit aufgesetzten Blaulichtern am Dach; zivile Streifen, mit hohem Tempo, aber unwirklich leise, an uns vorbei in Richtung Grazbachgasse. Mein Blick folgte ihnen. Der Pick-up war schon weg. Sie schienen ihm folgen zu wollen.
III.
Die Stille hielt sich lange. In meiner Erinnerung prägt sie die Szenerie. Eine stille Amokfahrt. Einzig das Hineinrasen des Pick-ups in die Kreuzung blieb mir als laut in Erinnerung. Später, bei der Gerichtsverhandlung, wurde ich danach gefragt, was der Pick-up- Fahrer mir zugerufen hatte. Ich habe es nicht verstanden, antwortete ich. Ob es Allahu akbar sein habe können, wurde ich gefragt. Das könne ich nicht sagen, ich habe es ja nicht verstanden, gab ich zur Antwort. Der Frager hätte sich wohl ein „ja“ erhofft, dann hätte das ganze Ereignis besser eingeordnet werden können. Ein späterer Vizekanzler verbreitete gleich noch am Tag des Ereignisses, es sei vom Rufen dieser Wortfolge berichtet worden. Er erntete dafür nur Unverständnis und Kritik.
IV.
Über Graz legte sich eine besondere Stimmung in den Tagen danach. Ich ging mehrmals täglich an der Stadtpfarrkirche vorbei. Der Gehweg vor ihrem Eingang war gesäumt von Kerzen. Es kamen immer mehr hinzu. Auch dort wieder: diese Stille. Menschen blieben stehen, verweilten in Gedanken. Manche hielten einander, umarmten sich, andere blieben für sich. Viele weinten. Man sah nachdenkliche Gesichter, warme Gesichtsausdrücke. Die Leute waren einander zugetan. Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, es haben sich dort Leute umarmt, die einander zuvor nicht kannten. Die Straßenbahngarnituren fuhren sehr langsam vorbei. Keiner ihrer Fahrerinnen oder Fahrer wagte es zu bimmeln.
V.
Auch am Geländer der Augartenbrücke wurde eine Kerze angezündet, genauso am Zaun zur Synagoge in der Zweiglgasse und an allen anderen Orten, an denen Menschen verletzt oder getötet worden sind. Die Kerze am Brückengeländer erinnerte an den Radfahrer. Sein Fahrrad hatte ich mit in meine Kanzlei genommen. Oder nicht? Ich denke schon, er kam doch einige Tage später, es abzuholen. Ich fand ihn sehr sympathisch. Er kannte die Arbeit mit geflüchteten Menschen. Wir fanden daher rasch Gesprächsstoff abseits des Pick-ups und seines Fahrers. Was dieser wohl bezweckte, dachte ich mir damals oft. In der Zweiglgasse hatte ich am Samstag richtig gesehen. Es lag nicht nur ein Mensch am Boden, es waren zumindest zwei. Ein Paar war dort niedergefahren worden. Sie seien bosnische Staatsangehörige gewesen, hieß es, auch der Fahrer des Pick-ups hatte bosnische Wurzeln. Nach der Augartenbrücke, beim dortigen Supermarkt, habe er dann eine Frau mit einem Messer attackiert. Sie sei afghanische Staatsangehörige gewesen, hieß es. In der Herrengasse sei eine Frau ums Leben gekommen, deren Identität man zunächst nicht habe feststellen können. Sie habe um Almosen gebeten, hieß es. Die Opfer hatten allesamt einen Bezug zu den Themen Flucht und Migration, dachte ich mir einmal. Und die Amokfahrt fiel auf den internationalen Tag der Flucht. Auch der Radfahrer arbeitete mit schutzsuchenden Menschen, so wie ich. Aber ich war kein Opfer. Dafür war ich damals um wenige Augenblicke zu langsam. Hätte ich das Büro nur eine Minute früher verlassen, wäre ich am linken Gehweg der Augartenbrücke entlanggegangen, als der Pick-up in die Kreuzung einfuhr. Der Fahrer hätte dann eine Auswahl treffen können, zwischen dem Radfahrer auf der rechten Seite oder dem Läufer mit der Banane auf der linken.
VI.
Ein paar Tage später kam es zu einer großen Trauerkundgebung. Ein Marsch entlang der Fahrtroute des Pick-ups. Viele Leute schlossen sich an. Freundinnen, Freunde und Familie gingen mit mir. Ich war froh, nicht alleine zu sein. Am Hauptplatz fand die Schlusskundgebung statt, wieder mit viel Stille. Es gab sanfte und bedacht entworfene Reden. Ich weiß noch, der damalige Bundespräsident sprach bewegende Worte, auch der Bürgermeister. Am Ende der Veranstaltung wurde ein Satz auf zahlreiche Tafeln projiziert: Wir sind füreinander da. Man hätte kaum treffendere Worte finden können. Es klang kein Revanchismus in den Wortmeldungen dieses Tages durch, nur Betroffenheit und Trauer, Mitgefühl und der ehrlich gemeinte Appell, füreinander da zu sein; nicht, um auf der Hut zu sein, um sich rechtzeitig zu warnen, vor dem nächsten Pick-up-Fahrer, vor Angreifern, die am besten und liebsten als von außen kommend verortet werden. Nein, schlicht, weil man zusammen am ehesten die Wunde schließen werde können, die die Route des Pick-ups in die Stadt geschnitten hatte. In meiner Erinnerung war Graz nie so warmherzig, so offen, so freundlich, wie in den Tagen und Wochen nach der Fahrt des Pick-ups. Ich kann mich an keine Betonboller in der Innenstadt erinnern.
VII.
Einige Monate später hörte ich wieder den Bundespräsidenten reden. In Wien rief er mit abertausenden anderen auf einem großen Platz den Slogan: Say it loud and say it clear, refugees are welcomehere. Der spätere Vizekanzler war sehr still in diesen Tagen. Eine Welle der Empathie trug weite Teile des Landes. Leute klatschten bei der Ankunft ihnen völlig fremder Menschen an Bahnhöfen. Sie freuten sich mit ihnen, dass sie in Sicherheit waren, den Konfliktherden dieser Welt heil entkommen waren. Später wurden sie als Willkommensklatscher abgekanzelt, ihre Empathie als Gefühlsduselei belächelt, ihr Realitätssinn als verschwommen beschrieben und überhaupt die Ereignisse dieses Sommers als unverantwortliche Naivität abgetan. Der Bürgermeister beschwor auf Anzeigesujets mit ernster Miene die Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme geflüchteter Menschen.
VIII.
Im Herbst 2016 fand die strafgerichtliche Aufarbeitung der Pickup- Fahrt statt. Im Warteraum vor dem Gerichtssaal traf ich auf den Bürgermeister. Er war wie ich als Zeuge geladen. Viele andere auch. Die Befragungen zogen sich etwas, blieben ohne wirkliche Substanz. Was sollte ich schon für die Wahrheitsfindung Wesentliches beitragen können? Die Wahrheit lag ohnehin offen zutage. Ich musste an die vielen Fragen denken, die in Asylverfahren immer gestellt werden: Wie viele Männer stürmten in ihren Laden? Waren sie in Uniform oder zivil gekleidet? Vermummt, bewaffnet? Welche Waffen? Waren es nun fünf oder sechs? Wenn Sie das persönlich erlebt haben, werden sie das wohl sagen können. Das muss ja ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, da kann ich wohl erwarten, dass Sie mir das etwas genauer schildern können. Gerüche, Lichtverhältnisse, Wetter, Temperatur, ich will Details hören. In Verkehrsunfallprozessen wollen technische Sachverständige oft wissen, wie weit entfernt das gegnerische Fahrzeug zum Zeitpunkt des ersten Wahrnehmens war. Manche belustigen dann die Antworten, genüsslich rechnen sie vor, weshalb sie technisch unmöglich stimmen könnten. Bei Befragungen von schutzsuchenden Menschen kann meist kein technischer Beweis oder Gegenbeweis erbracht werden. Die unzureichende Präzisierung wird dann als Vagheit beschrieben, die für die Unglaubwürdigkeit des Vorgebrachten spreche.
IX.
Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung an den Moment auf der Augartenbrücke dem tatsächlich Geschehenen entspricht. Der Mann, den ich im Gerichtssaal als Angeklagten sah, hatte nicht einmal ansatzweise Ähnlichkeit mit dem Bild des grölenden Fahrers in meiner Erinnerung. Ich weiß nicht, ob ich kurz vor der Einmündung in die Brücke stand oder dreißig Meter davor, als der Pick-up in die Kreuzung einfuhr. In meiner Erinnerung flog der Radfahrer über den Pick-up. Ich weiß nicht mehr, wie die junge Frau aussah, die dem Radfahrer ihre Wasserflasche reichte, bin nicht mehr sicher, ob ich ihm wirklich eine Banane anbot. An die Farbe seines Fahrrads kann ich mich nicht erinnern, ich glaube mich daran zu erinnern, dass es keine Kotflügel hatte. Ich weiß nicht mehr, ob ich das Fahrrad mit zu mir nach Hause, mit in mein Büro oder gar nicht mitnahm. Ich glaube, der Radfahrer war am Knie verletzt, es könnte aber auch das Schienbein gewesen sein. Die Amokfahrt ist sechs Jahre her. Ich habe in meiner Erinnerung ein klares Bild von manchen Abläufen, von manchen weiß ich gar nichts mehr. Das war schon wenige Tage danach so. Selbst bei dem, was mir immer noch so klar erscheint, bin ich unsicher. Ich wage es nicht zu recherchieren, ob der Amokfahrer wirklich einen Pick-up fuhr. Würde man mich lange fragen, ich würde bei jedem Detail zu schwanken beginnen. Sicher bin ich mir bei meinen Gefühlen, aber die würden, käme es auf meine Beschreibung an, als zu vage abgetan werden.
Ronald Frühwirth hat fast vier Jahrzehnte in Graz gelebt. Als Rechtsanwalt war er auf Asylrechtsfragen spezialisiert. Seine Kanzlei hat er Ende 2019 geschlossen und Graz daraufhin verlassen. Der Plan, sich dann mit der Familie eine Zeit lang durch die Welt treiben zu lassen, wurde von der Pandemie durchkreuzt. Auf Reise gingen sie dennoch, allein die Schritte wurden kleiner und führtendie Familie bisher in die Pinzgauer Berge, nach Wien und Hamburg. Dem Asylrecht widmet sich Frühwirth weiterhin als Vortragender in Schulungen und Seminaren, ansonsten beobachtet er viel, die Entwicklung seiner Kinder und die der Welt. Er schrieb für das Megaphon einige Jahre lang die Kolumne „Recht engagie