ILLUSTRATIONEN: LENA GEIEREGGER
INTERVIEW: JULIA REITER

Warum die Coronakrise ein Experiment der großen Möglichkeiten ist

Während viele Menschen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie fürchten, sehen andere neue Möglichkeitsräume. Christian Kozina ist einer davon. Im Gespräch mit Julia Reiter erklärt der Wissenschaftler und Nachhaltigkeitsexperte die Zusammenhänge zwischen der Krise und Wirtschaft, Demokratie und Klimaschutz. Und lädt dazu ein, unsere Zukunft selbst mitzugestalten.

Du engagierst dich seit vielen Jahren für Wandel auf unterschiedlichen Ebenen. Siehst du in der aktuellen Situation eine große Chance oder eher Gefahr?

Ich sehe beides. Es ist sehr unklar, wohin sich das Ganze in Zukunft entwickeln wird. Es ist ein riesiges Experiment, ohne Vergleichswerte. Und es beeinflusst unser gesamtes Leben und die Natur. Das macht es unglaublich schwierig und komplex. Gleichzeitig bietet es Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen und das Ganze in eine positive Richtung zu lenken. Denn eines ist schon klar: Vor der Krise war nicht alles gut. In unseren Breitengraden konnten wir zwar recht gut leben, aber eben stark auf Kosten der Natur, anderer Menschen und zukünftiger Generationen. Das ist ein Modell, das wir nicht unbedingt wieder hochfahren sollten. Im Gegenteil: Jetzt geht es darum, sich zu fragen, was wir wirklich brauchen. Was macht uns glücklich? Was benötigen wir, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen? Auf dieser Basis können wir uns überlegen, wie wir unser wirtschaftliches, politisches und gesellschaftliches System gestalten wollen.

Die aktuellen Wirtschaftsrettungspakete werden von vielen Seiten kritisiert. Was hältst du von diesen Maßnahmen? Ist ein Umgestalten in Sicht?

Es geht vieles in die Richtung, das Alte wieder aufzubauen. Man will Arbeitsplätze retten und sichern. Wenn aber bei Magna, Austrian Airlines oder ähnlichen Konzernen Jobs gesichert werden, müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir die eigentlich retten? Oder wäre es vielleicht besser, die kleinen, nachhaltigen Unternehmen zu unterstützen? Die Masse der Wirtschaft machen nicht die Konzerne aus, sondern die kleinen Unternehmen: Handwerksbetriebe, familiär geführte Betriebe, Landwirte usw. Sie sind unser Fundament. Die Hilfspakete sind in diesem Bereich jedoch im Vergleich sehr bescheiden. Viele kleine Betriebe könnten daher auf der Strecke bleiben, während sich die großen mit Staatshilfe über Wasser halten – ein Szenario das absolut nicht wünschenswert ist. Der Auftrag an die Politik wäre es, jene Unternehmen konsequent zu unterstützen, die nachhaltig sind. Wirtschaft an sich ist ja nicht schlecht. Es geht nur darum, die guten Teile, die wir wirklich brauchen, auch zukünftig zu sichern.

Was meinst du mit „nachhaltiger Wirtschaft“ genau?

Bei nachhaltiger Wirtschaft gibt es drei Dimensionen: Ökologie, Soziales und Ökonomie. Ökonomie ist relativ einfach erklärt: Das Unternehmen soll weiterhin bestehen – sofern es bedürfnisorientierte Produkte oder Dienstleistungen anbietet. Wesentlich ist die Frage: Was trägt ein Unternehmen ökologisch und sozial zum Gemeinwohl bei? Das ist nicht leicht zu beantworten. Daher die Idee: Neben der Finanzbilanz sollen Unternehmen auch eine Nachhaltigkeits- oder Gemeinwohlbilanz machen und genau hinschauen, welche ökologischen und sozialen Auswirkungen sie haben. Mit gezielten Maßnahmen können sie dann die negativen Auswirkungen reduzieren. So kommen wir auf einen Weg, auf dem sich die Unternehmen durchsetzen, die insgesamt positiv wirken. Die Politik kann diese dann kontinuierlich unterstützen, indem sie z.B. weniger Steuern zahlen müssen, einen leichteren Zugang zu Krediten oder Vorteile im öffentlichen Einkauf bekommen. Man kann viele Anreize schaffen, damit Unternehmen und Betriebe in die richtige Richtung gehen.

Gibt es internationale Beispiele, wo vergleichbare Konzepte funktionieren?

Unsere Wirtschaft ist heute in allen Ländern der Welt sehr globalisiert. Sie funktioniert immer nach ähnlichen Prinzipien. Die Diskussion hat sich bisher noch nie wirklich um Nachhaltigkeit gedreht. In Wahrheit ging es immer darum, Warenströme zu managen und dafür zu sorgen, dass der materielle Mangel reduziert wird. Daher auch immer das Streben nach Wachstum. Diese Idee ist aber nur sinnvoll, wenn die Menschen zu wenig haben. Wo wir im Überfluss leben, ist es sinnlos, das Wachstum fortsetzen zu wollen. Genau dadurch produzieren wir diese Kollateralschäden, die wir heute haben …

… wie die Kollateralschäden im Bereich Klima und Umwelt. Du engagierst dich auch für Klimaschutz. Durch die aktuellen Maßnahmen tut sich da momentan viel. Produktion und Mobilität sind weltweit stark zurückgegangen. Der CO2-Ausstoß ist gesunken. China soll wieder blauen Himmel sehen können. Wie siehst du diese Entwicklungen? Könnten diese positiven Einfluss auf den Klima- und Umweltschutz haben?

Mich hat es vor allem sehr überrascht, wie die Politik plötzlich durchgreifen kann, wenn es ein konkretes Bedrohungsszenario gibt, während es in anderen Bereichen, in denen das Szenario weniger konkret ist, wie beim Klimawandel, keine oder viel zu wenige Aktionen gibt. Das Gute ist, dass Politiker_innen und Bürger_innen nun erleben, was alles möglich ist. Allerdings möchte ich nicht, dass Klimaschutz so gemacht wird wie die Corona-Maßnahmen. Denn diese waren sehr klar von oben nach unten. Es gab keinen demokratischen Diskurs. Beim Klimaschutz braucht es demokratische Willensbildung. Teilweise ist das auch schon passiert. Die Menschen sind schon weiter, als die Politik Maßnahmen setzt.

Gesundheitsminister Anschober hat auf Ö1 davon gesprochen, dass er sich darauf freuen würde, nach überstandener Corona-Krise, die Klima-Krise mit einer ähnlichen politischen Konsequenz anzugehen. Können Zwangsmaßnahmen angesichts der existentiell-bedrohlichen Klimakatastrophe nicht auch sinnvoll und gerechtfertigt sein?

Es ist sehr wesentlich, dass es einen demokratischen Diskurs zu solchen Maßnahmen gibt. Wenn eine breite Mehrheit der Menschen eine Maßnahme für sinnvoll erachtet und akzeptiert und der Widerstand letzten Endes sehr gering ist, kann man diese Maßnahme setzen. Alles andere ist nur kurzfristig wirksam. Schnellschussmaßnahmen im Klimaschutzbereich wären also eher problematisch. Im Sinne der Demokratie geht es darum, eine gemeinsame Willensbildung voranzustellen. Dann können auch weitreichende Maßnahmen wie z.B. ein Verbot von Inlandsflügen getroffen werden. Und so würde ich mir wünschen, Klimaschutz zu gestalten: Dass wir ernsthaft Fragen diskutieren, demokratische Willensbildung erreichen und wirksame, demokratisch legitimierte Maßnahmen setzen.

Ein demokratischer Diskurs klingt zwar gut, aber auch langwierig. Ist das im Falle der Covid-19-Pandemie überhaupt eine Option?

Es gibt demokratische Spielregeln, die besagen: Je grundsätzlicher die politischen Maßnahmen wirken, desto mehr müssen Menschen allgemein mit einbezogen werden. Wenn es also um Grund und Freiheitsrechte geht, kann eine Bundesregierung nicht so leicht über unsere Köpfe hinweg entscheiden – es sei denn: Es droht eine Gefahr. Dann kann man diese Schritte gehen. Damit diese nicht mit 9 Millionen Österreicher_innen von Grund auf diskutiert werden müssen, gibt es unsere Repräsentant_innen. Im Nachhinein müssen diese Schritte aber auf alle Fälle legitimiert werden.

Die akute Gefahr rechtfertigt also die schnellen, harten Maßnahmen. Gleichzeitig hört man immer häufiger, nicht der Virus selbst sei die Krise bzw. die Gefahr, sondern seine Folgen auf sozialer, politischer, gesellschaftlicher Ebene (Stichwort Ungarn). Es wirkt fast so, als müssten wir uns – plakativ gesagt – zwischen Gesundheit und Bürger_innenrechten entscheiden. Wie siehst du das?

Das Virus an sich ist natürlich schon eine große Gefahr. Aber es gibt auch gefährliche soziale Auswirkungen, wie z.B. den Totalitarismus. Menschen, die schon derartig geprägt sind, können das nun vermehrt nutzen, so nach dem Motto: „Es gibt immer einen Grund für einen Ausnahmezustand.“ Regieren per Dekret ist eine ganz große Gefahr für jede Demokratie. Daher müssen solche Maßnahmen zeitlich immer klar begrenzt werden. Die Zivilgesellschaft und vor allem die Medien müssen sehr genau hinschauen, damit keine autoritären und totalitären Züge übrigbleiben. Außerdem sollte man daraus lernen, um eine nächste Krise besser und demokratischer zu meistern. Eines ist momentan sehr offensichtlich: Es wird einfach gemacht, was die Virolog_innen empfehlen. Diese haben zwar sicher sehr viel Expertise, wenn es darum geht, das Virus einzudämmen, aber sie haben keinen Überblick über die Kollateralschäden, die auf sozialer, ökologischer oder ökonomischer Ebene entstehen. Wir sehen gerade, dass diese Dinge etwas zukurz gekommen sind. Das in einer nächsten Krise besser hinzukriegen, könnte ein schöner Output sein.

In einem Posting schreibst du, dass es sich jetzt entscheidet, wie die Welt nach der Corona-Krise aussehen wird. Es soll zwei mögliche Richtungen geben: ZURÜCK zu Status quo und einer Welt, in der Ökosysteme kippen und Milliarden Menschen sterben. Oder VORWÄRTS in Richtung Wohl von Mensch und Umwelt. Ich sehe noch eine dritte Weggabelung: VORWÄRTS gen autoritären Staat, Überwachung, Abbau von Rechten, Dominanz durch Großkonzerne, zunehmende Umweltzerstörung usw. Hast du konkrete Anregungen, was jede/r Einzelne, trotz Einschränkungen tun kann, damit wir in eine „gute“ Richtung steuern?

Die Zeit war noch nie so gut wie jetzt, um sich über sein persönliches Verhalten Gedanken zu machen. Auf der einen Seite kann man als Konsument_in hinterfragen, was man mit seinem Geld machen möchte. Wenn ich konsequent von nachhaltigen Unternehmen Produkte kaufe oder Dienstleistungen in Anspruch nehme, geht das ganze System stark in diese Richtung. Dann gibt es noch die Produzentenseite: Wo arbeite ich eigentlich? Was macht mein Unternehmen? Man sollte bewusst schauen, wo die Potenziale liegen und was man nach der Krise anders machen könnte. Und die dritte Seite ist die des/r Bürger_in. Wie kann man politisch agieren? Wie geht man mit anderen Menschen um? Auch da kann man viel tun, helfen und unterstützen. Wir sind gerade in vielen Rollen gefragt. Letzten Endes sollte man sich überlegen: Was sind meine Werte? Wie solidarisch, gerecht, menschenwürdig, nachhaltig, demokratisch agiere ich eigentlich in meinem Alltag? Denn das hat den größten Impact. Es gibt da diesen schönen Spruch: Willst du die Welt verändern, dann verändere dein Land. Willst du dein Land verändern, dann verändere deine Stadt. Willst du deine Stadt verändern, dann verändere deine Straße. Willst du deine Straße verändern, dann verändere dein Haus. Willst du dein Haus verändern, dann verändere dich. (Laotse) Und so funktioniert es auch. Wenn ich irgendwelche Stufen dazwischen überspringe, werden die anderen merken, dass das aufgesetzt ist und nicht mit dem übereinstimmt, wie ich agiere. Die momentane Zeit ist wunderbar, um genau darüber nachzudenken und zu reflektieren.

 

D R . C H R I S T I A N K O Z I N A arbeitet am regionalen Zentrum für Nachhaltigkeit (Uni Graz). Er ist Sprecher bei Aktiv-Demokratie und Gemeinwohl-Ökonomie Steiermark, Vorstand des „Raums für nachhaltiges Wirtschaften“ und Kampagnen-Manager von MoVe iT.