Fotos: Arno Friebes
Interview: Julia Reiter

Lebensräume quer gedacht

John Jordan wünscht sich ein Leben in Gemeinschaft und Solidarität. Er kombiniert Kunst und Aktivismus. Mit „Reclaim the Streets“ wurde er international bekannt. Im März war Jordan in Graz zu Gast. Julia Reiter hat mit ihm einen Stadtrundgang gemacht und einen linken Visionär kennengelernt.

Ich warte auf den Stufen des Forum Stadtpark auf einen Terroristen. 25 Jahre künstlerisch- aktivistischer Tätigkeit bei radikalen Bewegungen haben John Jordan diesen Status eingebracht. In seiner Heimat UK gilt er als „einheimischer Extremist“. Online umgibt ihn eine Aura des Ungehorsams und Widerstands. Mit etwas Verspätung taucht ein schnaufender Mann, nicht viel größer als ich selbst, auf. Er entschuldigt sich mehrmals. Die Schraube, die sich durch sein linkes Ohrloch bohrt, ist das einzig Bedrohliche an ihm. Wir starten unseren Spaziergang.

Das Gebäude des Forum Stadtpark wird oft auch „Rathaus der Herzen“ genannt. 2017 fand hier einen Kongress über zivilen Ungehorsam statt. Zeitgleich gab es in der Stadt einen Vorfall von Vandalismus. Vize-Bürgermeister Mario Eustacchio äußerte sich dazu mit den Worten: „Hinter dem harmlos klingenden Begriff ‚ziviler Ungehorsam’ versteckt sich in Wahrheit ein Aufruf zur Gewalt.“ Und stellte eine fragwürdige Verbindung zwischen den Ereignissen her. Anstelle der kritischen Institution schlug er die Errichtung eines Stadtcafés vor. Das Forum Stadtpark distanziert sich von jeglicher Gewalt. Was denkst du über zivilen Ungehorsam? Gibt es eine Form von Gewalt, die sogar angebracht sein kann?

Ich glaube, dass Geschichte durch zivilen Ungehorsam gemacht wurde. Nicht, weil Regierungen sich denken: „Hier bitteschön, ihr könnt gern das Recht auf Abtreibung haben.“ Alles, was wir heute als selbstverständlich ansehen, die Tatsache, dass du gerade eine Hose trägst, ist nur möglich, weil Menschen ungehorsam waren. Das Gewaltvollste, das es gibt, ist das System, in dem wir gerade leben. Aus Leben wird Geld gemacht, die ganze Zeit und überall. Ich persönlich denke nicht, dass Sachbeschädigung gewaltvoll ist. Es gab zum Beispiel Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus, bei welchem Zuggleise in die Luft gesprengt wurden, um den Menschentransport zu den Konzentrationslagern zu stoppen. Heute würden manche von Gewalt sprechen. Ich würde sagen, so wird Gewalt verhindert. Ich würde das als Selbstverteidigung beschreiben. Solange dadurch kein Leben verletzt wird.

Das „Pfauengartenareal“, auf dem wir uns gerade befinden, gehört heute Privaten. Die Luxusapartments sind extrem teuer. Abgesehen von der Kritik an der Architektur selbst – für viele Bürger_innen eine Verschandelung des Stadtbildes –, führte dieses Projekt zu Prostest auf sozialer Ebene. Der befürchtete Einfluss von Wohnungseigentümer_innen auf das öffentliche Parkleben wirft die Frage auf: Wem gehört die Stadt? Beschäftigst du dich innerhalb deiner aktivistischen Tätigkeiten mit Privatisierung?

Ja, die Aktion „Reclaim the Streets“, bei welcher ich beteiligt war, richtete sich gegen Enclosure (Anm.: zu Deutsch: Einschließung; bezeichnete einst das Zusammenfassen von mehreren kleinen Grundstücken zu größeren Farmen in England seit dem 13. Jahrhundert, wodurch das Land nur noch für Eigentümer nutzbar wurde). Sie entstand in den 90ern zu einer Zeit, wo der Diskurs über Autos und Städte noch nicht so entwickelt war. Unser Ansatz war: Die Straßen sind Allgemeingut der Stadt. Durch die Autos werden sie allerdings privatisiert. Umso mehr Autos auf den Straßen fahren, desto weniger sprechen die Nachbar_innen miteinander. Das Auto ist nicht nur eine Maschine der Umweltzerstörung, sondern auch der Privatisierung. Also haben wir illegale große Straßenfeste veranstaltet. Mit Tanz, Musik und Vergnügen. Das ist der Schlüssel des Widerstands. Wir können keine radikal neue Welt kreieren, solange es nicht wirklich Spaß macht. Ich lebe außerdem auf einem Gelände namens la ZAD de Notre-Dame-des-Landes. Dort war ein großes Flughafenprojekt geplant. Die lokale Bevölkerung hat sich dagegen eingesetzt und die Gebäude besetzt. Sie schufen alternative Lebensweisen und -räume. Sie eröffneten Bäckereien, begannen voneinander zu lernen, führten die Agrarkultur weiter. 300 Menschen lebten dort. Diese Form des Protests zeigt gleichzeitig eine Alternative auf. Ähnlich wie bei „Reclaim the Streets“ sagen wir nicht einfach nur „nein“, sondern zeigen die Welt, die wir uns wünschen. Die Straße wird zum Fest, die Barrikade zur Bäckerei.

Ist dir im Schlossbergstollen irgendetwas aufgefallen? Wir haben klassische Musik gehört. Durch die permanente Beschallung sollen Randalierer ferngehalten werden. Daneben soll es noch andere Vertreibungsmechanismen wie hohe Tonfrequenzen geben.

Das ist eine andere Form von Enclosure. Statt Zäunen werden Geräusche verwendet. Menschen gehen dann eher in Bars und geben dort Geld aus, anstatt hier ihr günstiges Bier zu trinken. Konsumfreie Gemeinschaftsräume verschwinden so allmählich.

Zwischen Schlossbergplatz und Eisernem Tor gibt es sowieso ein Alkoholverbot. In Bars dürfen Menschen aber weiterhin konsumieren.

Das passiert überall: Arme werden dadurch aus der Stadt rausgedrängt, um unsichtbar zu werden und Diversität loszuwerden. Plötzlich gibt es keine Menschen mehr aus unterschiedlichen Klassen und mit verschiedenen Lebensgeschichten. Keinen Ort mehr, um sich zu treffen, etwas zu teilen, sich gemeinsam zu entwickeln. Es gibt nur noch Tourist_innen, Mittelklasse und Reiche. Das tötet Städte und macht Museen daraus.

Inzwischen haben wir den Hauptplatz erreicht, von manchen auch als Wohnzimmer des Bürgermeisters oder bürgerliche Visitenkarte der Stadt bezeichnet. Wir hatten im Stadtzentrum ein Bettelverbot. 2013 wurde es aufgehoben, weil es verfassungswidrig war. Die FPÖ forderte die Wiedereinführung des Verbots. 2001 wurde der Erzherzog-Johann-Brunnen zum Brennpunkt. Bürgermeister Siegfried Nagl versuchte, marginalisierte Menschen, oft vereinfacht als Punks zusammengefasst, u.a. mit Topfpflanzen von dort zu verdrängen …

… und jetzt stehen sie dort drüben, ein paar Meter weiter (Anm.: vorm „Billa-Eck“) und können nicht einmal sitzen. Verdrängung statt Problemlösung. Vielleicht sollten wir Bänke für sie bauen. In die Bänke könnten medizinische Pflanzen integriert werden, die bei Leberproblemen wie Alkoholismus helfen. So könnte aus dem Problem die Lösung werden.

Wir kommen zum Joanneumsviertel. Hier befinden sich anscheinend 20 Überwachungskameras, jedoch kein Hinweisschild. Wie stehst du zu Überwachung im öffentlichen Raum?

Eine weitere Form von Enclosure, ähnlich wie die klassische Musik und die Pflanzen beim Springbrunnen. Alle Studien zeigen, dass so etwas nicht wirklich funktioniert, um Verbrechen zu verhindern. Aber es schafft eine Gesellschaft, in welcher wir denken, dass es okay sei, konstant überwacht zu werden, weil wir eh gute Bürger_innen sind und nichts zu verbergen haben. George Orwell würde sich in seinem Grab umdrehen, wenn er unsere heutige Gesellschaft und die mangelnde Privatsphäre sehen könnte. Smart Cities sind keine Smart Cities. Es sind Städte vollkommener Überwachung. Sogar auf den Flughäfen gibt es schon Systeme, die deine Bewegungen analysieren. und jede/r, die/der sich nicht normal bewegt, wird überwacht.

Am Andreas-Hofer-Platz sehen wir die Zentrale von Energie Graz, ein Energieversorger, der an dem umstrittenen Murkraftwerk beteiligt ist. Die Vorwürfe reichen von Intransparenz bis hin zu Umweltzerstörung. Die Bürger_inneninitiative „Rettet die Mur“ versuchte den Bau zu stoppen. Gibt es effektive aktivistische Ansätze, um Großprojekte aufzuhalten?

Es gibt keine universelle Lösung. Aber ich glaube, wir kommen gerade in eine Zeit, wo große Infrastrukturprojekte durchaus abgebrochen werden. Das ist sehr aufregend. Ich war selbst lange beim Widerstand gegen die dritte Landebahn des Heathrow-Flughafens involviert. Und letzte Woche hat das Gericht endlich dagegen entschieden. Ein unglaublicher Erfolg. Ein zunehmendes Problem ist allerdings Greenwashing. Firmen wie Energie Graz erkennen, dass Klima und Kapitalismus sich nicht vereinbaren lassen. Ihre Antwort darauf ist grüner Kapitalismus. Ähnlich wie satanistischer Katholizismus macht es überhaupt keinen Sinn. Kapitalismus braucht Wachstum. Und wirtschaftliches Wachstum führt irgendwann zur ökologischen Katastrophe. Um das zu verschleiern, werden diese Firmen alles tun, um sich grünzuwaschen.

Auf dem Lendplatz wurden Anti-Terror-Poller errichtet. Wie du siehst, haben Skater_innen diese entdeckt. Nun gibt es Beschwerden von Anrainer_innen bzgl. der Lautstärke. Bürgermeister Siegfried Nagl hat eine Kompromisslösung abgelehnt. Die Steinpoller sollen durch eine Holzverkleidung zu Sitzgelegenheiten gemacht werden. Gibt es immer eine Lösung, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen einen Lebensraum teilen?

Ich kenne ein schönes Projekt in den USA. Skater_innen und ältere Menschen hatten da einen ähnlichen Konflikt. Die einen wünschten sich einen Skatepark, die anderen einen ruhigen Garten. Also wurden die beiden Gemeinschaften zusammengebracht, um zu reden und einen Konsens zu finden, also keinen Kompromiss, sondern eine Lösung. Schließlich haben sie einen Skatepark geschaffen, umgeben von Bänken für die älteren Menschen und einem Garten. Darin wurden spezielle Pflanzen gezüchtet, welche die Skater_innen verwenden konnten, um ihre Wunden vom Skaten zu versorgen.

Zwei Stunden sind verflogen. Viele Schritte wurden gegangen. Daher wohl mein Magenknurren. Ich schlage vor, in ein Café einzukehren. Etwas zögerlich. Ob John wohl in kommerziellen Lokalen konsumiert? Er lacht. Würde er sich nur von dem ernähren, was er selbst anbaut, wäre er schon längst verhungert. In der „Scherbe“ wird’s etwas gemütlicher. Und persönlicher. Er war wohl 8 oder 9, erinnert sich John, als alles seinen Anfang nahm. Er liebte es, auf dem weiten Ödland unweit seines Kindheitshauses zu spielen. Das fühlte sich unglaublich frei an. Und lebendig. Dann kam McDonald’s. Und ganz viel Beton. Sein kreativer Freiraum musste einem Ort des Konsums weichen. Auch wenn der kleine John wohl noch andere Wörter benutzt hat – das Gefühl bleibt das gleiche: „Es hat sich falsch angefühlt, einfach nur falsch.“ Das treibt ihn an. Manchmal etwas zu viel. John erzählt von seinen Burn-outs. Halbseitige Lähmung. Krass. Um abzuschalten, befasst er sich mit Magie. Diese sei nicht nur faszinierend, sondern habe auch viel mit Aktivismus gemeinsam. In der Zauberkunst musst du nur ganz fest an etwas glauben. Dann wird es auf einmal Wirklichkeit. Im Aktivismus ist das genauso. Daher womöglich auch sein Spitzname „Zauberer der Rebellion“… so viele Zuschreibungen. Und wie würde John sich selbst bezeichnen? „Ich bin ein Mischling: halb Punk, halb Hippie.“ Welchen Eindruck hast du nun von Graz?

Die Probleme von Gentrifizierung und Privatisierung sehe ich leider überall. Das ist kein Graz-Problem. Auch eine schwierigeFrage für Künstler_innen. Oft ziehen sie in ärmere und billigere Gegenden, eröffnen dort ihre Galerien und markieren damit den Beginn der Gentrifizierung. Reichere Menschen ziehen nach, die ärmeren Menschen werden verdrängt und am Ende oft auch die Künstler_innen selbst. Als Künstler frage ich mich: Können wir noch in Städten leben, ohne Teil des Gentrifizierungsprozesses zu werden?

Puh, es erscheint so schwierig, alles richtig zu machen. So viele schwierige Themen, Probleme und Baustellen. Wenn ich aktiv werden möchte: Wo soll ich überhaupt anfangen?

Starte dort, wo du dich befindest! John Berger sagte so schön: „Um etwas zu ändern, musst du die Lebensgeschichte davon kennen.“ Ich glaube, es ist wichtig, mit dem anzufangen, was uns nahe steht – physisch und emotional. Unsere Gesellschaft ist leider eine Gesellschaft der Distanzierung und emotionalen Loslösung. In unserem Lebenslauf kommt es super, wenn wir als Künstler_innen vorweisen können, Shows in Kairo und New York gegeben zu haben. Aber mein ganzes Leben in einer kleinen Gemeinschaft gelebt zu haben, diese gut zu verstehen, den Boden zu kennen usw., zählt kaum.

„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“, sagte Bertolt Brecht einst. Ist es unsere Bürger_innenpflicht, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen?

Ja, ist es. Es ist außerdem ein großes Vergnügen. Bertolt Brecht sagte auch, Theater solle eine Möglichkeit sein, Menschen in der Freude zu schulen, die Wirklichkeit zu verändern. Widerstand ist eine Pflicht, aber auch eine Chance. Wir können darin Gemeinschaft finden, neue Freundschaften schließen, uns aus der Einsamkeit befreien. Selbst wenn wir nicht gewinnen sollten, haben wir zumindest an der Seite von wundervollen Menschen, die nach Liebe und Solidarität streben, gekämpft.

Das vollständige Interview gibt es auch zu sehen. Begleitet John und Julia auf ihrem Video-Stadtrundgang durch Graz: www.megaphon.at/leseproben/walk-with-john-jordan/