Fotos: Photolgaphy / Olga Saliampoukou
Die unbeachtete Krise
Die Lage der Geflüchteten an der griechischen Grenze ist aktuell katastrophal. Und gerade die Coronakrise zeigt uns: Wir könnten auch anders.
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machte sich im März 2016 im Flüchtlingscamp Idomeni, an der griechisch-mazedonischen Grenze, breit. Hoffnungsträgerin „Mama Merkel“ hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Der sogenannte EU-Türkei-Deal sah vor, dass der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan künftig Menschen auf der Flucht daran hindern würde, nach Europa zu gelangen. Im Gegenzug wurden ihm sechs Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe, Visabegünstigungen und erneute EU-Beitrittsgespräche versprochen. Die EU hat ihr Problem damit abgeschoben, sich freigekauft und dabei noch den Deckmantel „zum Wohle der Flüchtlinge“ drübergelegt. Die Versorgung von schutzbedürftigen Menschen wurde in die Hände eines autoritären Führers gelegt, der es u. a. aufgrund seiner Menschenrechtsverstöße nicht einmal schaffte, in die EU aufgenommen zu werden.
2016 wurde gesät, was wir heute ernten. Wütende, rechtsradikale Banden auf Lesbos; selbsternannte Bürgerwehren an der griechisch-türkischen Grenze; Reporter mit Platzwunden, Geflüchtete in Flammen; Tränengas, Wasserwerfer, selbst scharfe Munition; ein sterbender Mann, eine Kugel im Leib; die Hölle von Moria[1], die Kinder suizidal; magere, entblößte Körper, ähnlich den grausigen Geschichtsbücherbildern; kenternde Schlauchboote, verzweifelte Eltern, Tränen und Schreie, ein ertrinkendes Kind…. Erdogan hat den EU-Türkei-Deal aufgehoben und die Grenzen nach Europa geöffnet. Die Folge: Tausende Menschen flüchten gen Griechenland. Erdogan – der „Erpresser Europas“. Doch wer war 2016 noch alles am Gärtnern? Und wen überrascht es wirklich, dass dieser Deal bei mittlerweile fast 4 Millionen Geflüchteten auf türkischem Borden und einem alles andere als verlässlichen Vertragspartner ins Schwanken gerät? Was allerdings tatsächlich verwundert, ist, wie unglaublich unvorbereitet die EU ist. Mensch hätte annehmen können, 2016 sei Zeit gekauft worden, um ohne Druck an der europäischen Migrations- und Integrationspolitik zu arbeiten und einen guten Umgang mit den zunehmenden Fluchtbewegungen finden zu können. Stattdessen wurden schleichend Fluchtwege geschlossen und Rechte abgebaut. Das Elend der Flüchtenden wurde derweil in türkische Lager oder gar vor die, durch EU-Gelder errichteten, Mauern zu Syrien verdrängt.
Wie bereits zu Zeiten der sogenannten „Flüchtlingswelle“ 2015, durchdringen erschütternde Bilder und Videos die Medien. Der Unterschied zu damals: Kaum jemand spricht heute öffentlich noch von „Willkommenskultur“. Die Nachrichtensprecher_innen machen sich nicht für die Betroffenen stark. Statt auf Humanität zu setzen, wird für Ordnung plädiert. Das Problem bleibt das gleiche. Der Ton hat sich völlig gewandelt. Lösungsvorschläge drehen sich um „Maßnahmen zum Schutz der Grenzen“. Jegliche Menschlichkeit wird unter technischen Begriffen begraben. Geld wird lieber für das Militär ausgegeben, um auf Flüchtende zu schießen, als für Hilfsorganisationen um sie zu retten. Griechenland wird zum „Schild Europas“ (EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen). Bilder entstehen, welche implizieren, dass wir uns militärisch gegen Angreifer_innen schützen müssen und verschleiern, dass es dabei um hilflose Kinder, Frauen und Männer geht. Euphemismen, wie „Menschen davon abhalten nach Europa zu kommen“ werden benutzt, um nicht beim Namen nennen zu müssen, worum es eigentlich geht: Gewalt, Gefangenschaft, Folter und Tod. Humanitäre Gesten. die 2015 noch gefeiert wurden und Merkel zur „Kanzlerin der freien Welt“ und „Person of the year“ im Time-Magazin machten, finden heute kaum noch Beachtung. (Und wenn dann eher Missachtung.) Politische Unterstützung kommt gelegentlich noch vor, endet aber an der EU-Außengrenze. „Echte Solidarität mit Griechenland leben. Da reichen Worte nicht, da braucht es Taten“, verkündet Innenminister Karl Nehammer. Fünf Jahre zu spät, dennoch besser als nie. „Wir dürfen keine falschen Signale senden“, warnt Integrationsministerin Susanne Raab mit ernster Miene, „ denn wir brauchen keine zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen in Österreich.“ Sie weist auf die mangelhafte Integration der 2015 angekommenen geflüchteten Menschen hin. Das Armutszeugnis untermalt sie mit Arbeitslosenzahlen ohne dabei jegliche politische Mitverantwortung zu übernehmen.
Wie fortgeschritten diese Krise bereits ist, zeigt das Aussetzen des internationalen Asylrechts in Griechenland (durch die UN als illegal eingestuft). Dieser Akt der griechischen Regierung veranschaulicht, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit – Dinge, die jahrelang erarbeitet und erkämpft wurden, bevor sie uns in einen trügerischen Winterschlaf verfallen ließen – letztlich sehr fragil sind. Dieser Rechtsbruch, die Missachtung der europäischen Grundlagen, stellt die ganze Idee der Europäischen Union infrage. Was am meisten am Recht hinkt? – Dass es den falschen Namen trägt.
Das Aussetzen des Asylrechts zeigt auch die extreme Komplexität der Fluchtproblematik. Lesbos hat sich jahrelang durch Gastfreundschaft und Mitgefühl ausgezeichnet (und viele Menschen tun das immer noch!). Doch ein derartiger Eingriff in das Gesetz, bleibt nicht ohne Folgen. Rechte Bewohner_innen der Insel sollen sich dadurch ermutigt, ja sogar legitimiert, fühlen, Geflüchtete, NGO-Mitarbeiter_innen, Journalist_innen usw. anzugreifen. Die Versäumnisse der EU werden zwischen Molotowcocktails und Hasspostings schmerzlich sichtbar. Seit Jahren sprechen Politiker_innen davon, dass es unmöglich sei, mit den „Flüchtlingsmassen“ fertig zu werden. Sie haben keine Mühen gescheut immer und immer wieder auf die negativen Konsequenzen hinzuweisen, welche diese haben können. Die Welt, in der wir leben, wird zum starren, bürokratischen Kartenhaus, das beim kleinsten Windhauch in sich zusammenzubrechen droht.
Und dann kam Corona. So vieles ist plötzlich möglich, drastische Maßnahmen und Einschnitte, die jede/n Einzelnen betreffen. Solidarität (natürlich innerhalb der nationalen Grenzen) erlebt eine neue Blütezeit. Österreich, die EU, ja fast die ganze Welt zeigt: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Corona ist halt unpolitisch, es polarisiert kaum und es betrifft alle (mehr oder weniger). Es unterscheidet nicht zwischen links und rechts, schwarz und weiß, arm und reich. Es kennt keine Kompromisse, keine Deals. Letzten Endes wird es wahrscheinlich aber auch in der „Flüchtlingskrise“ soweit kommen. Egal, ob wir pro oder contra Asyl sind, wir werden uns früher oder später damit auseinandersetzen müssen. Wenn der letzte Tropfen Wasser versiegt, kein Versteck vor Schüssen bleibt und Menschen nichts mehr zu verlieren haben, wird kein Zaun hoch und keine Munition scharf genug sein. Ein „Rauskaufen“ wird’s dann auch nicht mehr geben.
[1] Flüchtlingslager auf Lesbos, das für 3.000 Menschen ausgerichtet ist. Mittlerweile sind dort ca. 20.000 Geflüchtete untergebracht. Bei einem Brand kamen vor wenigen Tagen zwei Kinder um’s Leben. Die Fotos stammen aus Moria.
Julia Reiter konnte sich 2016 durch ihre Aufenthalte in den Flüchtlingslagern „Better days of Moria“ (Lesbos) und Idomeni selbst ein Bild von der schwierigen Lage der Geflüchteten machen. Das Ausmaß der aktuellen Katastrophe ist für sie dennoch schwer vorstellbar.